Wie die Lebenskräfte in Kindheit und Alter zusammenhängen
Wie kommt es, dass man gerade heute so viele müde und verhärmte alte Menschen trifft, wo es doch laut der anthroposophischen Menschenkunde mit der geistigen Kraft aufwärts gehen sollte?
Wie hängt der Inkarnationsprozess in der ersten Lebenshälfte mit dem Exkarnationsprozess in der zweiten Lebenshälfte zusammen?
Alterungsprozess am Beispiel einer Patientin
Diese Frage soll am Beispiel einer Patientin erläutert werden, deren Altwerden ich, nachdem sie das 75. Lebensjahr überschritten hatte, nah begleitete. Sie war ein geistig sehr aktiver Mensch gewesen. Dennoch entwickelte sie in den letzten Lebensjahren zunehmend in eine gewisse geistige Starre, die es ihr erschwerte, den Kontakt mit anderen Menschen zu pflegen. Sie wurde ängstlich und argwöhnisch, und man sah, wie die Verhärtungs- und Sklerotisierungsprozesse des Alters überhandnahmen und ihr bewusstes Gedankenleben stark beeinflussten.
Sie hatte bereits als junges Mädchen die Anthroposophie kennengelernt und seither unablässig an ihrer inneren Entwicklung gearbeitet und war auch sehr erfolgreich und tüchtig in ihrem Beruf. Nach dem frühen Tod ihres Mannes, war sie ganz auf sich selbst angewiesen. In ihrer frühen Kindheit hatte sie sehr unter einem extrem strengen Vater zu leiden gehabt und musste als Älteste von mehreren Geschwistern viel zu Hause helfen, oft bis in die Nacht hinein.
Sie ist für mich ein typisches Beispiel dafür, wie gerade in der frühen Kindheit, in der sich das Nervensystem aufbaut, Schäden veranlagt werden können, die sich in starken Abbauerscheinungen im späteren Alter widerspiegeln (vgl. Entwicklung: Alterungsprozess in Bezug zur Entwicklung in Kindheit und Jugend). Den schwächenden Einflüssen ihrer schweren Kindheit und Jugend und den dadurch schon im frühen Alter zu erwartenden Erkrankungen hatte sie durch ihr sehr aktives Innenleben entgegenzuwirken vermocht, sodass die Verhärtungsprozesse erst viel später in Erscheinung traten.
Aufgaben einer zukunftsorientierten Erziehung
Aus dem Wissen um den Zusammenhang zwischen der Art, wie ein Mensch in seinem Körper inkarniert und zwischen der Art, wie er sich wieder davon löst, möchte ich konkrete Hinweise geben, wie wir bereits in der Pädagogik einen positiven Einfluss auf den Alterungsprozess nehmen können.
- Bewusste Pflege der Lebenskräfte der Kinder
Eine der wichtigsten Aufgaben einer zukunftsorientierten Erziehung, die nicht nur den Augenblick, sondern die ganze Biographie im Auge hat, besteht darin, die Lebenskräfte der Kinder bewusst so zu pflegen, dass solchen Alterungsvorgängen vorgebeugt wird. Durch Selbsterziehung und die intensive Pflege des eigenen Seelenlebens kann der Erwachsene selbst Gesundheit bis ins hohe Alter veranlagen.
Der Grund dafür, dass so viele Menschen im Alter bedauerliche Zustände erleben, liegt zum einen in den unzureichenden Entwicklungs- und Erziehungsbedingungen unserer Zeit und zum anderen in der mangelhaften selbstbestimmten Aktivierung der seelischen und geistigen schöpferischen Kräfte, die in einer durch den Materialismus geprägten Kultur zu wenig Pflege erfahren.
Selbst wenn in der Kindheit die Wachstumskräfte durch zu frühes intellektuelles Training in Denkkräfte umgewandelt wurden, gibt es Möglichkeiten, den zu erwartenden Schäden im späteren Leben vorzubeugen. Korrekturmöglichkeiten liegen immer in demjenigen, was für ein bestimmtes Lebensalter an der Reihe ist.
- Versäumtes nachholen über altersgemäße Aktivitäten
Dazu ein Beispiel: Hat ein achtjähriges Kind den größten Teil seiner Kindheit vor dem Fernsehapparat oder einem anderen Medium verbracht (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des physischen Leibes) und ist deshalb motorisch ungeschickt, neigt zudem zu stereotypen Bewegungen, wiederholt ständig bestimmte Formulierungen, ist unfähig zu konzentrierter Gedankentätigkeit, so macht es keinen Sinn, mit diesem Kind die versäumte motorische, sprachliche und kognitive Kleinkind-Entwicklung nur nachholen zu wollen. Man muss sich vielmehr fragen:
Was braucht ein gesunder Achtjähriger?
Altersgemäße Aktivitäten wären:
- Spaziergänge in der Natur,
- Bewegungsspiele im Freien,
- Lösen einfacher Rätsel,
- gemeinsames Auswendiglernen von Gedichten,
- Zeichnen von einfachen Formen mit der Hand, mit dem Fuß, mit immer wieder neuen Farben,
- Malen von Bildern zu vorgelesenen Geschichten,
- einfache musikalische Übungen an einem Instrument und in Form von Singen.
Über all das wird das Kind in seiner altersentsprechenden Lerndisposition gefordert – aber nicht nur das: Über diese gemeinsamen Aktivitäten entsteht eine Beziehung zwischen Lehrer und Kind, die es dann auch erlaubt, dass manches aus der Kleinkindentwicklung in veränderter Form auf einer anderen Ebene nachgeholt werden kann. In einem solchen Fall sollte man sich zusätzlich mit erfahrenen Heilpädagogen, Ergo- und Physiotherapeuten unterhalten bzw. mit einem Kinderpsychiater austauschen.
Nachholmöglichkeiten im Erwachsenenalter
Jeder Mensch kann natürlich auch noch im Erwachsenenalter an sich arbeiten (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Notwendige Selbsterziehung im Seelischen). Denn jedes Alter hat seine altersspezifische Lerndisposition, die es uns ermöglicht, bis zu einem gewissen Grad Versäumtes nachzuholen und damit vom Seelisch-Geistigen aus im Sinne einer „geistigen Ernährung“ heilsam auf den Leib zurückzuwirken.
- Künstlerisches Üben
Hat man beispielsweise eine Erziehung genossen, die ganz im Zeichen der Frühintellektualisierung stand, so ist es eine große Hilfe, wenn man sich im späteren Leben künstlerische betätigt (vgl. Kunsttherapie: Kunst als Weg zur Ergreifung des Ich ). Optimal wäre es, regelmäßig an eurythmischen Laienkursen teilzunehmen, denn keine Kunst appelliert so zentral an die Aufbaukräfte des Organismus und führt zu einer Stärkung der gesamten Vitalität wie die Eurythmie. Die eurythmischen Bewegungen entsprechen den Entwicklungsbewegungen des menschlichen Körpers, die schon vom Embryo als Wachstumsbewegungen durchgeführt werden. Das zeigen Ultraschall-Filmaufnahmen, die während der Schwangerschaft gemacht worden sind. Die Embryonen und Feten vollführen die Grundbewegungen, die wir aus der Sprach- und Toneurythmie kennen (vgl. Die ersten drei Jahre: Gehen - Sprechen – Denken: Embryonale Leibwerdung und Bildebewegungen). Doch hilft natürlich jede künstlerische Tätigkeit, die schöpferischen Kräfte – speziell des Gefühls und Willenslebens – zu aktivieren, da Kunst nicht auf Verstandesleistungen beruht, sondern durch regelmäßiges Üben und Wiederholen (Willensanstrengungen) und durch ästhetisches Beurteilungsvermögen zustande kommt. Genau hinzuspüren, ob etwas schon gelungen ist oder nicht, regt wiederum das Gefühlsleben an.
- Kontrolle der Kritikbereitschaft
Auch ist es eine gute Übung für früh intellektualisierte Menschen, sich in Bezug auf ihre Kritikbereitschaft zu kontrollieren. Denn meist neigen sie dazu, unablässig Situationen, Menschen und Vorgänge um sich herum zu beurteilen. Wer dies bei sich entdeckt und darauf zu verzichten beginnt, wird bemerken, dass seine Vitalität zunimmt. Zudem werden die Aufbaukräfte des Organismus dadurch unterstützt. Denn alles kritische Beurteilen birgt eine destruktive Tendenz, egal, ob das jeweilige Urteil positiv oder negativ ausfällt. Beurteilungen dienen dazu etwas fest zu stellen und beruhen somit auf einem unproduktiven Gedankenleben: „Wie konnte der nur, er müsste doch eigentlich wissen...“, oder „Das finde ich ausgezeichnet, das hätte ich auch so gemacht, wenn ich in seiner Situation gewesen wäre - allerdings hätte er...“ usw. Solche Feststellungen werden um ihrer selbst willen gemacht und ziehen keine Taten nach sich.
Ganz anders die Urteile, die durch sorgfältiges Abwägen zu Entscheidungen und damit auch zu Willenshandlungen führen.
Im Rahmen der Selbsterziehung gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, in der Kindheit veranlagte Erziehungsschäden im späteren Leben auszugleichen und damit zur Harmonisierung der körperlichen und geistigen Kräfte beizutragen.
Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart