Die fünf Ebenen der Pädagogik

Welche Ebenen der Pädagogik gibt es?

Welche Entwicklungsfelder betreffen sie?

Welche pädagogischen Perspektiven eröffnen sich dadurch?

Ebenen der Interaktion mit dem Kind

Hier würde ich gerne einige grundlegende Gesichtspunkte nennen, die für die kindliche Entwicklung hilfreich sind und die zuhause wie auch im Rahmen der professionellen Betreuung berücksichtigt werden können.

  • 1. Der Raum – körperliche Entwicklung

Alles, was sich in der Umgebung eines Kindes befindet, wirkt auf seine Sinne. Deshalb ist es entscheidend, wie man den „Raum“, das Umfeld des Kindes, behandelt. Denn was über die Sinne wirkt, muss vom Nervensystem verarbeitet werden. Und daraus wiederum resultiert die Konfiguration des Gehirns für das ganze Leben. Auch der Körper ist Teil dieses „Raumes“.

Wie kann ein Kind dazu angeregt werden, sich so autonom wie nur möglich im Raum zu bewegen?

Rudolf Steiner sagt, die beste Erziehung bestehe darin, dem Kind Anregungen zu geben für seine Eigentätigkeit, ihm so wenig wie möglich zu zeigen oder vorzugeben und es so zu indoktrinieren. Spielräume schaffen ja, aber keine „spanischen Stiefel“ anlegen, die das Kind zwingen, in bestimmte Richtungen zu gehen.

Zum Aspekt des „Raumes“ gehört auch die gesunde Ernährung und alles, was mit der Interaktion von Körper und Umwelt zu tun hat, also alles, was die körperliche Entwicklung betrifft.

  • 2. Die Zeit – Entwicklung von Fähigkeiten

Der Titel eines berühmten Buches in den USA lautet „The Hurried Child“1 – das gehetzte Kind. Emmi Piklers Grundlagen-Buch hat den Titel: „Lasst mir Zeit“.2 Diese Titel deutlich machen, dass das schöne biblische Wort – „Alles hat seine Zeit" – ganz besonders für die kindliche Entwicklung gelten sollte. Alle Prozesse, alle Tagesabläufe, alle Rhythmen haben ihre besondere Bedeutung im Tageslauf: Der Morgen hat andere Qualitäten als der Abend, Pflegezeiten haben eine andere Qualität als die Zeiten für das freie Spiel. In der Ausbildung zur Waldorfpädagogik wird man regelrecht darin geschult, wie man mit Rhythmen, mit Zeitgestalten, mit Entwicklungsepochen umgehen kann.

Ich habe vor einiger Zeit die Entwicklungsschritte des Kindes von Jahr zu Jahr detailliert ausgearbeitet.3 Auch nach der modernen Entwicklungsforschung hat jedes Jahr ganz bestimmte Entwicklungsfenster, in denen bestimmte Fähigkeiten sich besonders gut entwickeln können. Wenn man etwas zu früh, also zum falschen Zeitpunkt, trainiert oder fördert, kann sich das Altersentsprechende nicht ausreichend entwickeln und das, was sich später entwickeln sollte, ist „frühreif“ und damit nicht stark genug entwickelt. Daraus ergeben sich in der späteren Entwicklung entsprechende Probleme.

  • 3. Die Beziehung – seelische Entwicklung/Beziehungsfähigkeit

Zur Gestaltung der Beziehung möchte ich etwas ausführen, was die Brücke ist zu einem wirklich spirituellen Verständnis des Menschen bilden kann. Die moderne Bindungsforschung spricht von drei Qualitäten, die eine gute Beziehung kennzeichnen:

Ehrlichkeit: Je ehrlicher es zugeht in einer Beziehung, desto besser fühlen sich die Beteiligten.

Liebe in einer Form, die eher mit Verständnis als mit Sympathie umschrieben werden kann, ist die zweite Qualität: Ein Mensch fühlt sich erst dann wirklich geliebt, wenn er sich auch verstanden fühlt. Wenn einer sagt – „Ich liebe dich!“ – und der andere entgegnet – „Du verstehst mich aber nicht“ – kommt die Liebe wenig zum Tragen. Oder wenn ein Streit mit den Worten abgebrochen wird: „Lass uns nicht streiten, wir lieben uns doch.“ Menschen, die nicht mehr miteinander reden können, haben ein ernstzunehmendes Problem, weil jeder im Grunde seines Herzens verstanden werden möchten. Das ist ein hochsensibles Feld.

Wenn man Kinder so nimmt, wie sie sind, und sie so sein dürfen, wie sie sind, entspannen sie sich, können sich öffnen und sind lernfähig. Das Gegenteil passiert, wenn sie immer das Gefühl haben, dass sie, so wie sie sind, nicht richtig sind, weil man ständig an ihnen „rummacht“. Um sich verstanden zu fühlen, muss ein Kind wissen, dass es, so wie es gerade ist, angenommen wird. Es geht um das Verstehen des Anderen/Andersartigen und nicht darum, dass der andere so zu sein hat, wie man selbst (ihn haben will).

Goethe fand in einem Gedicht an seine geliebte Charlotte von Stein eine sehr schöne Formulierung: „Ich fühlte mich in deinen Augen gut.“ Dieses Bild habe ich mir zu einer Übung gemacht, indem ich mich frage:

Wie muss ich selber über andere Menschen denken, über sie reden, mit ihnen umgehen, dass sie sich in meinen Augen gut fühlen?

Als Antwort kam ich auf die bereits genannten Qualitäten einer guten Beziehung.

Respekt vor der Autonomie des anderen: Das ist die dritte Qualität. Es geht darum, viele Räume für Eigentätigkeit und Interaktion mit anderen zu schaffen und nicht zu versuchen, die eigenen Ziele im und über das Kind zu verwirklichen.

Die Gestaltung der Beziehung ist extrem wichtig und erfordert ein moralisches Fundament. Kinder durchschauen unmittelbar, wenn beim Erwachsenen kein echtes, ehrliches Interesse waltet. Sie blicken tief bis in unser Innerstes, spüren, was wir wirklich fühlen. Wenn sich Gedachtes, Gesagtes und Gefühltes decken, fühlen Kinder sich in unserer Gegenwart wohl. In dem Punkt hat die Bildungsforschung recht: Es ist egal, wer es ist, aber es muss einen Menschen im Leben des Kindes geben, zu dem es eine gute Beziehung hat und eine Bindung entwickeln kann. Wenn es die Mutter ist, ist das ein besonderes Glück für beide.

  • 4. Die Identität – Entwicklung von Selbstbewusstsein

Das vierte Prägungsfeld für eine individualitätsorientierte, persönlichkeitsstärkende Erziehung ist die Identitätsbildung.

Wie aber bildet sich Selbstbewusstsein?

Wie vollzieht sich der Prozess der Identifizierung?

Wir wissen, dass jedes Kind zwischen zwei und vier Jahren zu sich „ich“ zu sagen beginnt. Erst ab da weiß es von sich. Davor ist zwar „da“, es isst, trinkt, spricht, freut sich, empfindet Schmerz, weiß aber nicht von sich, hat kein echtes Selbstbewusstsein. Dann kommt der magische Moment, das erste bewusste Ich-Erlebnis: Dabei handelt es sich um ein erstes eigenständig reflektierendes Denkerlebnis als ein Produkt der Entwicklung, das in aller Regel erst in dieser Zeit auftritt. Das bedeutet, unser Selbstbewusstsein wurzelt und entwickelt sich im Denken. Ab da kommt es zu einem ersten Erleben von Identität und Selbstbewusstsein. Man kann zwischen einem Leben davor und einem Leben danach unterscheiden:

Einfluss von Erlebnissen vor dem Ich-Sagen: Alles, was vor diesem magischen Moment geschah, auch wenn es sich um negative, traumatische Ereignisse handelt, hat die Raum-Zeit-Struktur und die kindliche Seelenstruktur im Unbewussten, Körperlichen, Physiologischen tief beeinflusst und geprägt. Was geschieht, wenn das Selbstbewusstsein in einer solch negativ geprägten Konstitution erwacht, wissen wir aus der Traumatherapie: Ereignisse im späteren Leben, die an diese unbewussten, dem Körper eingeprägten Erlebnisse rühren, führen zu überraschenden, aus der Tiefe kommenden, schweren Reaktionen. Die Identitätsbildung wird durch solche Traumata behindert. Das betroffene Kind rutscht wie ab, verliert sich im Ereignis. Dann ist eine gute Erziehung mit sehr viel Beziehungskultur gefragt um diese Abgründe zu „sanieren", um Narben aus dieser vor-ich-bewussten Zeit im Nachhinein auszuheilen.

Einfluss von Erlebnissen nach dem Ich-Sagen: Alles, was das Kind nach dem bewussten Ich-sagen erlebt, wird vom eigenen Denken begleitet. Deswegen ist es entscheidend, dass sich der Lehrplan altersentsprechend immer an dieses Persönlichkeitsbewusstsein wendet, sodass die Kinder nie mehr zu verdauen haben, als sie auch verarbeiten können. Wenn es Schritt halten kann mit den Lerninhalten, entwickelt sich beim Kind ein starkes Selbstbewusstsein.

Wenn es aber nicht so richtig mitkommt, wenn es den Eindruck hat, die anderen können etwas, das es selbst nicht kann, entwickelt sich ein negatives Selbstbewusstsein. Das Kind wird sich dann immer selbst in Zweifel ziehen. Es wird den Belastungen im späteren Leben weniger gewachsen sein. Ein selbstbewusstes Kind lebt von dem Bewusstsein: „Ich kann, wenn ich will. Und wenn ich etwas noch nicht kann, wird mir geholfen.“ Es erlebt, dass ihm nichts abgenommen wird, dass es aber Hilfe zur Selbsthilfe bekommt. Das ist ich-stärkende identitätsbildende Erziehungskultur. Identität bildet sich durch Selber-Machen, Selber-Erleben, Selber-Denken. Dann ist Identifizierung mit dem eigenen Tun möglich. Wenn andere anstelle des Kindes machen und tun, sind die anderen stark, es selbst aber fühlt sich schwach. Im Grunde ist das sehr einfach. Man muss diesen Prozess nur in seiner ganzen Folgenschwere erkennen.

  • 5. Die spirituelle Orientierung – geistige Entwicklung

Dieses Erfahrungsfeld ist heute besonders sensibel. Wenn Sie sich an einem schönen Sonntagnachmittag bei einem Wetter wie heute in einer belebten Fußgängerzone einer Klein- oder Großstadt hinsetzen und sich die Zeit nehmen, nur zu beobachten, wie die Menschen gehen, wie ihre Haltung ist, wohin sie schauen, wenn sie gehen, und wie sie schauen, werden Sie drei Extremvarianten erleben:

Sie werden Menschen beobachten, vor allem auch Jugendliche, bei denen Sie das Gefühl haben, dass sie ganz in sich „drinstecken“. Wenn sie irgendetwas finden, dass ihnen in die Quere kommt, wird es weggekickt. Sie beziehen ihre Grundorientierung ganz stark aus dem Körper und seinen Bedürfnissen. Oft haben sie eine Flasche in der Hand, dann sieht man es gleich, aber es geht auch ohne. Man merkt, sie sind sehr stark körperverhaftet und dementsprechend ist ihr Gang.

Die zweite Gruppe sind Menschen, die nicht ganz in sich drin sind, die wie Überflieger wirken, die nicht zentriert sind. Oder sie gehen gehetzt irgendwohin, aber es wirkt, als wäre es nicht das, was sie wirklich wollen. Sie müssen.

Die dritte Gruppe ist eher klein. Es gibt gar nicht so viele Menschen, die frei und offen aus der Mitte heraus auf ein Ziel zugehen, die weder zu sehr „draußen“ sind, noch zu sehr „drinnen“ stecken. Diese Menschen befinden sich in einem freien, ausgewogenen (mittleren) Zustand. Man merkt, dieser Mensch gibt sich selbst eine Orientierung und ist mit seinem Ziel, mit dem, wohin er geht, in Übereinstimmung.

Es gibt eine schöne Überlieferung von einem Schüler, der seinen Zen-Meister fragte, wie er denn die richtige Orientierung gewinnen könnte. Dieser sagte: „Das ist ganz einfach - ich kann dir sagen, wie ich es mache: Wenn ich liege, liege ich. Wenn ich sitze, sitze ich. Wenn ich stehe, stehe ich. Und wenn ich gehe, gehe ich.“ So jemand wird nicht gegangen, er geht.

Die Art, wie wir uns aufrecht halten, wie wir sprechen, wie wir uns Ziele setzen, wofür wir uns einsetzen, wie wir unser Leben gestalten, ist ein Produkt der Art und Weise, wie wir gelernt haben über uns selber, über das Leben und die Menschen, aber auch über die Menschheit, nachzudenken. All das spiegelt wider, woran wir uns selber geistig orientieren.

Warum aber ist eine solche spirituelle Orientierung des Erwachsenen gerade für kleine Kinder so wichtig?

Kleine Kinder wachen aus einer tiefen Unbewusstheit durch ihr Ich-Bewusstsein in unsere Welt herein auf und spüren die spirituelle Orientierung des Erwachsenen, die ihm geistig Rückgrat gibt und zu einem eigenen Standpunkt verhilft, die ihm innere Sicherheit schenkt und der Quell seiner selbst gewählten weltanschaulichen lebensbejahenden Kompetenz ist. Diese orientierende Kraft wird nachgeahmt und gibt dem Kind ebenfalls Sicherheit und Vertrauen in das Leben und in andere Menschen. Deswegen müssen wir uns besonders um diesen Bereich der spirituellen Orientierung kümmern, nicht in dem Sinn, dass wir sagen, so oder so muss sie aussehen, sondern in dem Sinn, dass man zu verstehen beginnt, dass eine solche Orientierung nötig ist und man sich aus diesem Wissen heraus ehrlich auf die Suche nach einer persönlichen Orientierungsmöglichkeit macht.

Vgl. Vortrag „Kindsein heute – quo vadis Menschheit“, 22. Mai 2011 in Bühl/Baden

  1. David Elkind, The Hurried Child: Growing Up Too Fast Too Soon.
  2. Emmi Pikler, Laßt mir Zeit, Die freie Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen.
  3. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung, 2019.