Eine Meditation gegen Angst

Was ist die Geschichte hinter dem berühmten Spruch „Beim Läuten der Glocken“?

Ich möchte an dieser Stelle ein Buch empfehlen, das neu herausgegeben wurde: „Die Weihnachtstagung als Zeitenwende“1 von Rudolf Grosse. Es geht um die Begründungstagung der Anthroposophischen Gesellschaft und ihrer Hochschule (vgl. Freie Hochschule für Geisteswissenschaft: Arbeitsanliegen der Hochschule). Dieses Werk wurde jetzt neu herausgegeben, weil vor über 100 Jahren hier am Hügel die Grundsteinlegung stattfand. Derjenige, der es ermöglichte, Emil Grosheintz,2 war ein reicher Zahnarzt – d.h. diese Entwicklung bewegt sich ganz im Rahmen unserer Medizinischen Sektion.

Lebensverändernde Intervention

Sein älterer Sohn, der damals siebenjährige Pierre Grosheintz, war verhaltensauffällig, sodass die verzweifelten Eltern Rudolf Steiner baten, ihrem Jungen Hilfe und Rat angedeihen zu lassen, damit Schule und Eltern wieder mit ihm zurechtkämen. Rudolf Steiner tat daraufhin etwas, das zu unserem Thema der Entängstigung gehört: Er traf sich mit dem Knaben, übergab ihm eine Meditation und sagte ein paar liebe Worte dazu. Das Ergebnis war, dass das Kind Vertrauen fasste, dass aus ihm „etwas werden könnte“. Es fühlte sich „in Ordnung“ und begriff, dass die Meditation ihm helfen würde nur noch etwas erwachsener zu werden...

In dieser Art muss Rudolf Steiner den Spruch übergeben haben, denn der Junge betrachtete ihn von da an lebenslang als seine persönliche Meditation. Seine Verhaltensauffälligkeiten nahmen daraufhin von Jahr zu Jahr ab.

Entängstigungsmeditation

Der Spruch hat den Titel: „Beim Läuten der Glocken“.3, 4 Dabei handelt es sich um eine wirksame Entängstigungsmeditation, weil sie das Gute im Menschen wachruft. Die Mission der Angst besteht ja auch darin, das Gute im Menschen, die wahren Entwicklungspotentiale, wachzurufen: Dazu gehört, dass man lernt, sich zu schützen oder gegebenenfalls auch zu retten, aber auch, wie man Grenzen einerseits respektiert, und sie andererseits geistig überwindet. Dieser Spruch lautet:

Das Schöne bewundern,
das Wahre behüten,
das Edle verehren,
das Gute beschließen.
Es führet den Menschen
im Leben zu Zielen,
im Handeln zum Rechten,
im Fühlen zum Frieden,
im Denken zum Licht
und lehrt ihn vertrauen
auf göttliches Walten
in allem, was ist,
im Weltenall, im Seelengrund.

Die entängstigende Wirkung dieses Spruches ist in der darin aufleuchtenden Ganzheit begründet, die Weltenall und Seelengrund umfasst. Dadurch wird das Isolierte wieder in Zusammenhang mit dem Heilen und Ganzen gebracht und fühlt sich einbezogen und geborgen. Wer sich an die Ganzheit anzuschließen vermag, kommt nachhause. Dazu gehört auch die entängstigende Wirkung von Vertrauen-Können. Wer vertrauen kann, schöpft wieder Hoffnung und wer hoffen kann, entwicklt Vertrauen – das gehört zusammen. Vertrauen in die Zukunft zu haben, bedeutet Hoffnung für die Zukunft zu haben, nur ist das Vertrauen schon etwas Stabileres: Hoffnung kann noch mehr Wunschcharakter haben, Vertrauen fügt den Willensaspekt dazu: dass man bis in den Willen hinein hofft.

Wahrheit, Schönheit, Güte als drei Ich-Kompetenzen

Wahrheit, Schönheit, Güte – Wahrheit für das Denken, Schönheit für das Fühlen, Güte für das Handeln – sind die drei Ich-Kompetenzen, die wir im Denken, Fühlen und Wollen durch unser Streben realisieren:

  • Je wahrhaftiger wir werden, je mehr wir an Erkenntnis gewinnen, umso gesünder und angstfreier werden wir geistig.

  • Je schöner es im Gefühlsbereich und im Sozialen wird, je mehr Interesse und Liebe herrschen, umso harmonischer und gesünder wird es im Sozialen, in der Kommunikation.

  • Entsprechendes gilt im Individuellen: Wenn ich mich bemühe, mein Handeln so in den äußeren Umkreis einzufügen, dass es zu dem passt, was gerade geschieht und gebraucht wird, dann leiste ich einen sinnvollen, guten Beitrag und kann mich persönlich als einen gesunden Faktor in meinem Umkreis erleben. Dann habe ich im Sinne Goethes das Gefühl: „Hier bin ich Mensch! Hier darf ich sein“.5

Deshalb ist der oben genannte Spruch sehr gut geeignet für ängstliche Kinder. Man kann ihn auch als überkonfessionelles Abendgebet nehmen, denn Rudolf Steiner gab ihm den Titel „Beim Läuten der Glocken“. Zu diesem sehr aktiven Jungen – heute würde man sagen: „hyperaktiv-anpassungsgestört“ mit einer aggressiven Komponente – sagte er sinngemäß: „Immer wenn Du Kirchenglocken hörst, denkst du an diese Worte.“ Das erklärt, warum Steiner eben diesen Titel für einen so philosophischen Spruch wählte.

Sein Vater kaufte später den Hügel, auf dem heute das Goetheanum erbaut ist, und schenkte ihn Rudolf Steiner.

Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013

  1. Rudolf Grosse, Die Weihnachtstagung als Zeitenwende – und die Grundsteinlegung des Ersten Goetheanum. Dornach 2013.
  2. Emil Grosheintz-Laval (* 22. Februar 1867 in Paris; † 24. Oktober in 1946 Ascona in der Schweiz) war Zahnarzt und hatte eine Praxis in Basel.
  3. Diesen Spruch schrieb Rudolf Steiner 1913 für den damals siebenjährigen Pierre Grosheintz. Er war der ältere der beiden Söhne des mit Rudolf Steiner befreundeten Baseler Zahnarztes Emil Grosheintz (1867-1946).
  4. In: Rudolf Steiner, Wahrspruchworte. GA 40, S. 84 (Ausgabe 1991, die auch der Online-GA zugrunde liegt).
  5. In: Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Osterspaziergang.