Durch und für die Menschheit lernen

Was verdanken wir unserem Umfeld an Erfahrungen?

Wie lassen sich Informationen und Nachrichten eigenständig so erarbeiten, dass wir sie nicht nur konsumieren, sondern wichtige Erkenntnisse daraus gewinnen?

Inwiefern stehen wir in der Schuld der Menschheit?

Lerngewinn durch eigene und Fremderfahrung

Wenn ich Antworten auf allgemein-menschliche Fragen suche, komme ich in eine Lern- und Entwicklungsebene, auf der ich enorm von Fremderfahrungen profitiere.

Ich war z.B. noch nie in Pakistan, auch nicht in Afghanistan, aber was kann ich nicht alles über die Medien und die Literatur von den Verhältnissen dort lernen! Wenn ich die Zeitung lese und ein wenig meditiere, was ich zwischen den Zeilen lese, gewinne ich enorm, weil ich aktiv und emphatisch an der Menschheitsgeschichte anteilnehme. Wir alle lernen aus Fremderfahrungen. Man braucht nur zu überlegen, was man alles durch Überlieferung weiß. Wieviel das ist, wird mir bewusst, wenn ich mir ehrlich Rechenschaft darüber ablege, was ich meinem Schicksalsumkreis verdanke und was ich mir selbst hart erarbeitet habe.

Das Beispiel soll deutlich machen, wie viel wir den negativen Erfahrungen anderer verdanken. Man kann mit anderen so mitleiden und daraus einen ähnlichen Lerngewinn ziehen, als hätte man es selbst erlebt. Ein anderer Aspekt ist, dass andere stellvertretend für uns leiden, damit wir daraus lernen können.

Was wir uns dank der Erfahrungen anderer ersparen

Jetzt behaupte ich etwas scheinbar Paradoxes, das aber sehr viel mit Medizin und Prävention zu tun hat: Viele von uns sind nur deswegen so gute Menschen, weil sie in der Jugend nicht nur ihre eigenen Erfahrungen gemacht und daran unendlich viel gelernt haben, sondern weil sie auch aus fremdem Leid und fremder Schuld gelernt haben. Wie oft sind wir nur deshalb unschuldig, weil andere schuldig wurden.

Ich habe als kleines Kind einmal einen Betrunkenen erlebt. Er torkelte umher und hat alles vollgekotzt und ging dann auch zu Boden. Das war sehr abschreckend für mich. Ich fragte daraufhin meinen Vater, wie man so wird. Daraufhin erklärte er mir, was Alkoholismus ist. Mir war seitdem klar, dass ich Alkohol nicht anrühren würde. Die erlebte Szene, aber auch mein Vater, der mir den Zusammenhang erklärte, haben mich sehr beeindruckt. Diese Fremderfahrung war mein Schutz. Ich musste nie die Wirkungen von Alkohol am eigenen Leib erleben und dann wieder trocken werden. Ich will damit nicht sagen, dass Alkoholismus nicht auch seinen Sinn und seine Berechtigung hat. Aber es ist auch schön, seine Zeit mit anderen Erfahrungen verbringen zu dürfen.

Das Beispiel soll deutlich machen, wie viel wir den negativen Erfahrungen anderer verdanken. Man kann mit anderen so mitleiden und daraus einen ähnlichen Lerngewinn ziehen, als hätte man es selbst erlebt. Ein anderer Aspekt ist, dass andere stellvertretend für uns leiden, damit wir daraus lernen können.

Hiob und das Stellvertreterprinzip

Nehmen wir die Geschichte von Hiob als Beispiel (vgl. Krankheit: Hiob – Schuld und Krankheit). Hiob war sich dieses Stellvertreter-Aspektes bewusst. Er fühlte sich in der Schuld seines sozialen Umfeldes, ja der ganzen Menschheit. Überspitzt ausgedrückt, könnte man sagen, dass viele Menschen schuldig werden mussten, damit er aus ihren Erfahrungen lernen und unschuldig bleiben konnte. Seine Unschuld baute auf der Schuld anderer auf. Er lernte durch Fremderfahrungen.

Nachdem Hiob nun so viel von anderen profitiert hatte, wurde er stellvertretend für die Menschheit krank und erlebte dieses Mal am eigenen Leibe, wie es ist, unschuldig zu leiden und dadurch andere vom Lernen-Müssen durch Krankheit und Leid zu entlasten. Als Hiob diesen Zusammenhang erkannte, erkannte er den spirituellen Sinn von Krankheit: Dass die anderen nicht mehr krank werden mussten, weil er, Hiob krank geworden war. Dieser menschheitliche Aspekt ist der am schwierigsten zu verstehende Part von Hiobs Geschichte. Er ist es jedoch, weswegen das Buch „Hiob“ in der christlichen Tradition als das christlichste Buch des Alten Testamentes gilt.

Einer trage des Anderen Last

Dieser Aspekt zeigt sich mir auch in der neutestamentlichen Aufforderung „Einer trage des Anderen Last“. 1 Diese Worte drücken ein tief christliches Motiv aus. Solange Menschen noch etwas zu lernen haben, muss es auch Leid geben, das es zu tragen gilt wie eine Last. Doch unter dem oben dargestellten Blickwinkel ist es nicht so wichtig, wer leidet, um die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Die Hauptsache ist, dass das der Lerngewinn daraus der Menschheit zur Verfügung steht und sie darauf zugreifen können. Deshalb können Menschen auch stellvertretend füreinander leiden – unschuldig und ohne karmische Verstrickung.

Auch Christus litt stellvertretend für die ganze Menschheit, indem er freiwillig und unschuldig größtes Menschheitsleid, Gewalt, Folter und Mord, durchmachte. Doch sein Leiden hat noch eine andere Dimension. Er nahm dieses Leid bewusst und unschuldig auf sich, um die schlimmsten karmischen Folgen von uns abzuwenden (vgl. Christus heute: Das Mysterium von Golgatha als Zentralereignis). Das sollte uns Menschen Mut und Kraft geben, die für unsere Entwicklung nötigen Herausforderungen, die uns auf Erden begegnen, als unser Schicksal anzunehmen und auszuhalten. Indem er alles ganz bewusst durchlitt, erwarb er eine Kraft, die er fortan seinen Menschengeschwistern zur Verfügung stellt, die Kraft, das eigene Schicksal trotz Unbewusstheit und Schuld gut zu bewältigen.

Die Entlastung anderer ist der Sinn dieses Stellvertreterprinzips. Indem Christus als Unschuldiger bewusst Menschheitskarma auf sich nahm, erlöste er die Menschheit vor den karmischen Folgen ihrer bisherigen Entwicklung und wies ihr gleichzeitig einen neuen Weg – wie Hiob ihn zu seiner Zeit schon ging.

Vgl. Seminargruppe „Die fünf Inspirationsquellen der Anthroposophie“, Witten 2010

  1. Neues Testament, Galater 6, 2.