Charakteristika einer spirituellen Medizin laut Rudolf Steiner

Welchen Prinzipien folgt die von Rudolf Steiner und Ita Wegman beschriebene spirituelle Medizin?

Wodurch äußert sich ihr allgemein-menschlicher Ansatz?

Wodurch zeichnen sich eine spirituelle Chemie und Physik aus?

Was ist unter Kulturtherapie zu verstehen?

Krankheit aus zwei Blickwinkeln sehen

In dem Werk über Anthroposophische Medizin „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“ von Rudolf Steiner und Ita Wegman werden unter anderem auch die Grundlagen einer spirituellen Medizin beschrieben.1 Bereits die Überschrift des ersten Kapitels lässt dies anklingen, indem da von „wahrer Menschenwesen-Erkenntnis“ die Rede ist. Die Wortwahl erinnert an die Initiationspraktiken der antiken Mysterien, wo es in allen Einweihungsgraden um wahre irdisch-kosmische Selbst- und Welterkenntnis ging. Doch konkret im Alltag:

Erwartet nicht jeder Kranke vom Arzt, dass dieser die Ursache seines Problems durchschaut und die notwendigen Maßnahmen einleitet?

Dass er die Wahrheit über seinen Zustand bestmöglich herausfindet?

Daher die Forderung der Autoren, der Wahrheit des Krankheitsgeschehens von zwei Seiten aus näherzukommen, indem die schulmedizinischen Diagnosefaktoren mit der geisteswissenschaftlichen Betrachtung verbunden werden.

Christuserkenntnis als zentrales Element

‚Wes Geistes Kind‘ aber ist diese Forderung?

In „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“2 wird der Christus als ‚großer Hüter der Schwelle‘ auf dem Erkenntnisweg dargestellt, der dem Schüler den Sinn der Erdenentwicklung, des Todes und der Wiedergeburt enthüllt. In der „Geheimwissenschaft im Umriss“3 wird der Christus auch namentlich genannt und seine zentrale Bedeutung innerhalb der Schöpfung und für die Entwicklung der Menschheit geschildert.4 In beiden Werken begegnet man einer zentralen Bezugnahme auf die Wesenheit des Christus in einer weder religiös noch konfessionell tingierten Weise.

Verfolgt man diesen Wesensbezug zu Christus im Steiner‘schen Vortragswerk, oder auch nur in der Schrift „Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit“,5 so zeigt sich, dass für Steiner diejenige geistige Realität, die er mit dem historischen Christus identifiziert, in allen Aspekten und Dimensionen menschlichen Lebens und Entwickelns eine zentrale Rolle spielt – ganz im Sinne der johanneischen Aussage: „Durch es [das Wort] sind alle Dinge geworden, und nichts von allem Entstandenem ist anders als durch das Wort geworden.“6

Anthroposophisches Menschenbild und Schulungsweg

Die Steinersche Christologie versteht sich als Weg zur Christuserkenntnis. Dieser Weg ist von seinem Selbstverständnis her unabhängig von traditionellen Glaubensüberzeugungen und religiösen Bekenntnissen. Es geht bei ihm im tiefsten Sinne um ‚wahre Menschenwesen-Erkenntnis‘, um das ecce homo.

Die anthroposophische Menschenkunde befasst sich mit diesem allgemeinmenschlichen, rein geistigen Wesensgefüge des gesunden Menschenurbildes, das der uns bekannten Schöpfung innewohnt. Sie versucht verständlich zu machen, warum und wie in dieser Schöpfung alles mit allem geistig und physisch zusammenhängt.

Daher kann sich ein japanischer Shintu-Priester in seiner spirituellen und wissenschaftlichen Praxis ebenso von dem anthroposophischen Erkenntnisweg und Menschenbild anregen und bereichern lassen wie ein buddhistischer Mönch, ein Brahmane oder ein Angehöriger des jüdischen oder muslimischen Glaubens oder ein materialistischer Naturwissenschaftler. Denn Christliche Spiritualität ist zugleich allgemeinmenschliche Spiritualität und die Spiritualität in den Naturerscheinungen.

Dienender Charakter der Substanz

Ein weiteres wichtiges Merkmal der von Rudolf Steiner beschriebenen spirituellen Medizin ist ihr selbstlos dienendes Prinzip. Das Substanzverständnis der Anthroposophie, wie es im Grundlagenwerk der Anthroposophischen Medizin „Grundlegendes zur Erweiterung der Heilkunst“ erörtert wird,7 beruht auf dieser Grundlage. So werden im 1. Kapitel die Substanzen in ihrem selbstlos dienenden Charakter gezeigt, wie sie sich den vier Kräftebereichen von Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt unterordnen, wodurch sie zu deren jeweiliger Manifestation beitragen und dadurch alle Naturerscheinungen in die Sichtbarkeit bringen.8

Die Erdensubstanz – im christlichen Bekenntnis symbolisiert durch Brot und Wein – ist nach diesem Verständnis nicht nur die physische Grundlage für die Erd- und Menschheits-entwicklung. Vielmehr zeigt sich ihr zutiefst christlicher Charakter daran, dass sie dient:

  1. im mineralischen Zustand den Todesprozessen,
  2. in der Pflanzenwelt den Lebensprozessen,
  3. in der tierischen Natur den seelischen Äußerungen und der Bewegungsfähigkeit.
  4. Im Menschen aber wird sie „Geist tragend“.9

Vor diesem Hintergrund sind dann Sätze in dem genannten Werk wie der folgende zu verstehen: „[…] dann wird man durch Einfügung eines Erdenstoffes in den menschlichen Organismus oder durch Behandlung mit einer Erdentätigkeit bewirken können, dass die höheren Glieder der Menschenwesenheit sich ungehindert entfalten können, oder auch, dass die Erdenstofflichkeit an dem Zugefügten die nötige Unterstützung findet, um auf den Weg zu kommen, auf dem sie Grundlage wird für irdisches Wirken des Geistigen.“10

Spirituelle Chemie und Physik der Zukunft

In der Schrift „Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit“11 – präzisiert Rudolf Steiner diesen Aspekt auch noch im Hinblick auf die Entwicklung der Substantialität der Erde: „Künftig werden Chemiker und Physiker kommen, welche Chemie und Physik nicht so lehren, wie man sie heute lehrt [...] sondern welche lehren werden: ‚Die Materie ist aufgebaut in dem Sinne, wie der Christus sie nach und nach angeordnet hat!‘ – Man wird den Christus bis in die Gesetze der Chemie und Physik hinein finden. Eine spirituelle Chemie, eine spirituelle Physik ist das, was in der Zukunft kommen wird. Heute erscheint das ganz gewiß vielen Leuten als eine Träumerei oder Schlimmeres. Aber was oft die Vernunft der kommenden Zeiten ist, das ist für die vorhergehenden Torheit.“12

Diese selbstlos dienende Haltung wird von den in der anthroposophischen Pharmazie und Medizin Tätigen auf dem anthroposophischen Schulungsweg geübt und prägt den spirituellen Charakter dieser Bereiche.

Heilsam wirken durch umfassende Kulturtherapie

Die Anthroposophische Medizin kann als Kulmination von Steiners Grundanliegen, heilsam zu wirken, gesehen werden. Alles, was er geschrieben und getan hat, stand und steht im Dienst einer umfassenden Kulturtherapie, die heilsam auf die zeitgeistigen pathologischen Tendenzen einwirken sollten.

Was Rudolf Steiner unter Kulturpathologie verstand, stellte er im ersten Vortrag des Gründungskurses für die Waldorfpädagogik im August 1919 so dar: „Vergessen Sie nicht, indem Sie sich Ihrer Aufgabe widmen, daß die ganze heutige Kultur, bis in die Sphäre des Geistigen hinein, gestellt ist auf den Egoismus der Menschheit. [. . .] Wir leben in der Zeit, in der dieser Appell an den menschlichen Egoismus in allen Sphären bekämpft werden muß, wenn die Menschen nicht auf dem absteigenden Wege der Kultur, auf dem sie heute gehen, immer mehr und mehr abwärts gehen sollen.“13

  • In Philosophie und Geistesleben

Im philosophischen Werk Steiners wird die Grundlage zur Kulturtherapie in Form eines tiefgreifenden Autonomieverständnisses gelegt. Freiheit und Liebe, die zur Selbstlosigkeit fähig sind, stehen dabei als menschliche Entwicklungsziele an zentraler Stelle. Sie sind Ausdruck menschlicher Würde und geistiger Gesundheit.

  • In der Pädagogik

Entsprechend wird im Zusammenhang von Steiners Darstellungen zur „Allgemeinen Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik“14 eine ‚Physiologie und Psychologie der Freiheit‘ veranlagt.

  • In der Kunst als Therapie

Und auch die künstlerische Tätigkeit versteht Steiner nicht als ästhetischen Selbstzweck. Sie hat Bewusstsein weckenden Charakter und mündet in allen Bereichen in therapeutische Wirksamkeit, wie in EH am Beispiel der Heileurythmie in Kapitel XVIII gezeigt wird. Der Leiter der Kolisko-Akademie, Armin Husemann, hat diesem Impuls einer therapeutisch ausgerichteten „Menschenwissenschaft durch Kunst“ sein Lebenswerk gewidmet.15

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 202516/sup>

  1. Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
  2. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.
  3. Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13.
  4. Ebenda, Seite 219–225, 251–256 sowie 351–353.
  5. Rudolf Steiner, Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, GA 15.
  6. Neues Testament, Johannes Kap. 1, 3.
  7. Siehe FN 1.
  8. Christian Morgenstern (1871–1914) hat diesem dienenden Geschehen sein Gedicht Fußwaschung gewidmet.
  9. Vgl. Harlan, (2008).
  10. Siehe FN1, S. 12.
  11. Siehe FN 5.
  12. Siehe FN 5, S. 46.
  13. Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293, 26 f.
  14. Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293.
  15. Vgl. A. Husemann (2007 und 2024).
  16. In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.