Humanmedizin der Zukunft

Was war Rudolf Steiners Vision einer Humanmedizin der Zukunft?

Welche Herausforderungen müssen zu ihrer Verwirklichung gemeistert werden?

Berücksichtigung der Individualität und Würde

Rudolf Steiners letztes Werk „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“1 gibt einen umfassenden Ausblick auf eine Humanmedizin der Zukunft, in der sich die Erkenntnisse der naturwissenschaftlich-empirischen Forschung mit denen der anthroposophischen Geistesforschung zur Heilkunst verbinden können. Wäre der Mensch eine Maschine, so ließen sich Körper, Seele und Geist reparieren und steuern, sobald der Mechanismus durchschaut ist. Auch wenn dieses Paradigma immer noch hoch im Kurs steht: Die tägliche Erfahrung zeigt, dass dem nicht so ist. Jedes Individuum, jede menschliche Biografie ist einmalig und bedarf der individuellen (Selbst-)Erkenntnis, Pflege und Gestaltung. Nicht umsonst gibt es den schönen Begriff der Lebenskunst dafür, wenn diese individuellen Gestaltungsprozesse graduell gelingen.

Wird das Menschenbild auf die rein naturwissenschaftliche Ebene reduziert und Seele und Geist – hypothetisch – zu Ergebnissen von molekulargenetisch und biochemisch steuerbaren Prozessen gemacht, verliert der Begriff menschlicher Würde seinen Inhalt. Denn Wert und Inhalt erhält dieser Begriff durch die Möglichkeit der Entwicklung von Freiheit, Selbstverantwortung und einer Kultur des Gewissens, wie sie der Frühromantiker Novalis im zweiten Teil seines „Heinrich von Ofterdingen“ so prägnant beschrieben hat und wie sie auch der Anthroposophie zugrunde liegt.2

Eine solche Kultur lässt sich nicht von außen steuern, wohl aber kann sie sich entwickeln, wenn dies von vielen einzelnen Menschen individuell eingesehen und gewollt wird – wenngleich sie heute noch vielfach als „Torheit“ angesehen wird. Rudolf Steiner sagte dazu: „Aber was oft die Vernunft der kommenden Zeiten ist, das ist für die vorhergehenden Torheit.“3

Verbindung von Materialismus und Spiritualität

So ging es Steiner auch dezidiert nicht um ein Entweder-Oder bezüglich Materialismus und Spiritualität, sondern um ein wirklichkeitsgemäßes Sowohl-als-auch:

Das trifft den Punkt, um den es geht, an dem man therapeutisch ansetzen könnte, nicht. Zunächst einmal muss man herausfinden:

„Der Materialismus ist die Weltanschauung, die den Menschen betrachtet, insofern er hervorgegangen ist aus den Substanzen und Kräften dieser Erde. Und wenn auch mancher betont, der Mensch bestehe nicht bloß aus den Substanzen und Kräften dieser Erde, so haben wir doch keine Wissenschaft, die sich mit dem am Menschen beschäftigt, was nicht aus den Substanzen und Kräften dieser Erde kommt. Deshalb ist heute die Behauptung von vielen, die es von ihrem Standpunkt aus gut meinen, daß irgendwie das Ewige in dem Menschen dennoch verstanden werden könne, eine nicht ganz ehrliche. […] Und viele, die heute den Materialismus widerlegen wollen, wissen eigentlich nicht, was sie tun; denn sie ahnen nicht, welche ungeheure Bedeutung die Detailkenntnisse haben, die der Materialismus gebracht hat. Und sie ahnen nicht, was für eine Konsequenz für das Ganze der Menschenerkenntnis der Materialismus gebracht hat“.4

„Es ist die Tragik des Materialismus, daß er nichts von der Materie weiß, wie sie in Wirklichkeit in den verschiedenen Gebieten des Daseins wirkt. [. . .] Er weiß gar nichts über die Wirkung der Materie, weil man darüber erst etwas erfährt, wenn man die in der Materie wirksame Geistigkeit, die die Kräfte darstellen, ins Auge fassen kann.5

Von dieser „in der Materie wirksamen Geistigkeit“ ist in „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“ die Rede – so wie sie aus Sicht der Anthroposophie im Weltall, der Natur und im Menschen anzutreffen ist. Diese ‚Kräfte‘ und ihre Gesetzmäßigkeiten ebenso zu studieren wie die Naturgesetze, ist und bleibt lebenslang Aufgabe und Herausforderung für jeden anthroposophischen Arzt. Das Ziel dieses Weges – der sich gesund entwickelnde Mensch – ist dabei ein inspirierendes Ideal für Forschung, Entwicklung und tägliche Arbeit.

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 20256/sup>

  1. Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, Kapitel 12, GA 27, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1991.
  2. Zu Novalis siehe auch Kap. V sowie GA 59, 236–268 und Glöckler (2023c).
  3. Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, Kapitel 12, GA 27, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1991, Seite 46.
  4. Rudolf Steiner, Der übersinnliche Mensch, anthroposophisch erfasst, GA 231, 58f.
  5. Rudolf Steiner, Anthroposophie — Eine Zusammenfassung nach einundzwanzig Jahren. Zugleich eine Anleitung zu ihrer Vertretung vor der Welt, GA 234, 86 .
  6. In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.