Würdige Pflege demenzkranker Menschen

Wie kann man Demenzkranken helfen, beim Sterbeprozess ihre Menschenwürde zu bewahren?

Inwiefern kann das anthroposophische Menschenbild dabei hilfreich sein?

Das anthroposophische Menschenbild gibt uns die Möglichkeit, das Krankheitsbild der Demenz sehr genau zu beschreiben: Die Frühsymptome entstehen dadurch, dass sich die ich-geführte und durch ätherische Gedankenaktivität getragene, bewusste Reflektion am Gehirn nicht mehr genügend vollziehen kann. Um damit angemessen und menschengemäß umzugehen, haben wir in der anthroposophischen Pflege- und Demenzausbildung extra Lehrgänge für Kranken- und Altenpflege im hohen Alter. Dazu gehört, dass die Pflegenden lernen sich bewusst zu werden, dass beim älteren Menschen die Fähigkeit zu reflektieren und Wahrnehmungen zuzuordnen zwar nachlässt, dass aber sein seelisch-geistiges Vermögen trotzdem erhalten bleibt und außerkörperlich vorhanden ist (vgl. Entwicklung: Vom Punktbewusstsein zu peripherer Kompetenz).

Den Patienten als ganzen Menschen sehen

Unsere Erfahrung zeigt, dass Ruhe eintritt, wenn der Pflegende seinen Patienten als ganzen Menschen sieht – als wäre er unverletzt: Was äußerlich als Schwäche, als Autonomiedefizit und Mangel in Erscheinung tritt, wird durch die körperlich-seelische Bewusstseinsarbeit des Pflegenden ergänzt. Ein älterer Mensch, der daran verzweifelt, dass er nicht mehr so kann, wie er einmal konnte und noch möchte, spürt das und fühlt sich dadurch in seinem unzerstörbaren Wesen wahrgenommen und aufgefangen (vgl. Selbstbewusstsein: Selbstbewusstsein erringen als Erwachsener). Eingehüllt in das Bewusstsein seiner Unversehrtheit, kann er seine Restfunktionen viel besser einsetzen. Um diese Entwicklungs- und Sterbezusammenhänge zu wissen, kann uns helfen, Demenzkranke würdig zu begleiten – gleichsam ihre geistige Würde wieder herzustellen – einfach dadurch, dass wir wissen, was geschieht.

An der Reaktion eines Demenzkranken kann man immer sofort ablesen, ob man ihn gestresst, verängstigt, deprimiert oder verunsichert hat. Das alles kann ja ganz schnell passieren, denn wenn das Ich sich gelockert und losgelöst hat, haben wir es mit dem nackten Astralleib zu tun, der zwar noch eine gewisse Ich-Verbundenheit hat, aber über sein Erleben nicht mehr genügend reflektieren kann.

Zwischen Verstehen und Angst

Als Pflegender muss ich mir klar machen: Ich lebe mich ein in das Leben eines Menschen, der langsam auf die Todesschwelle zugeht und dessen Ich bereits zunehmend in der geistigen Welt lebt. Das Grandiose ist, dass man bei Bettlägerigen für Momente erleben kann, dass das Bewusstsein noch einmal wie „hereinschießt“ und von ihnen ganz bedeutende Dinge gesagt werden, manchmal nur zwei Worte.

Meine Mutter saß im letzten halben Jahr einmal morgens glückstrahlend im Bett, als die Pflegerin hereinkam, und sagte zu ihr: „Jetzt weiß ich alles. Grandiose Überschau. Alles ist wahr.“ Eine halbe Stunde später reagierte sie total aggressiv, weil man ihr die Nägel schneiden wollte und sie Angst hatte vor dem, was da passierte.

Der Verstehende und der Ängstliche sind ein und derselbe Mensch. Der Pflegende ersetzt ihm sein Ich, das nicht mehr am Physischen interessiert ist, sondern jetzt mehr im Umkreis lebt und mit dem Hineinwachsen in die geistige Welt beschäftigt ist. Je mehr man sich als Pflegender dessen bewusst ist, kann man die Gesten des Raumschaffens, des Umhüllens und des vorsichtigen Wahrnehmens aufbringen. Die Haltung gegenüber dem Betroffenen – „Dein Wille geschehe“ – soweit dies möglich ist, allein diese Haltung beruhigt ihn und gibt ihm Sicherheit (vgl. Sinne(spflege): Fragen und Antworten zu den Sinnen).

Kunst als Tor zur geistigen Welt

Durch Sprache und Musik pflegt man auf gute, liebevolle, künstlerische Art die Organe des alternden, auf den Tod zugehenden Menschen. Über Worte und Töne erlebt er unmittelbar den Zusammenklang mit der Erde. Die Seele nimmt alles Künstlerische wie Konzerte, gute, starke Musik, mit über die Schwelle. Sie kann mit „ihrer“ Musik noch mitschwingen. Alles, was ein Mensch auf Erden gehört hat, verbindet ihn in der Läuterungszeit der ersten 30 Jahre nach dem Tod noch mit der Erde.

Wenn die agitierte Phase abebbt (vgl. Demenz: Die Phasen der Demenzerkrankung), wenn Sprache und Bewegung nachlassen und das Dasein des Sterbenden mehr ins Ätherisch-Pflanzliche übergeht, weil der Astralleib sich auch schon gelöst hat, kann man sich bewusst machen, dass Ich und Astralleib schon drüben sind, dass er schon mit Seelen drüben kommuniziert. Manchmal wird auch davon erzählt, wird von Begegnungen mit Verstorbenen berichtet. Es ist wichtig, sich diesen Prozess in seiner ganzen Schönheit vorzustellen und sich darüber zu freuen, dass man den physischen Körper noch pflegen darf.

In unserer materialistischen Zeit ist es enorm wichtig, dass wir Menschen das Geheimnis des Todes als Geistgeburt immer sorgfältiger studieren und dieses Tor zur geistigen Welt wieder öffnen lernen (vgl. Sterben und Tod: Tod als Geistgeburt begriffen). Denn das ist die Mission dieser Kranken: Sie stellen allen Erdensinn in Frage und konfrontieren uns mit dem Geistessinn.

Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008