Eigener Zugang zum Geistigen
Wie kann man einen eigenen Zugang zum Geistigen finden?
Einsamer Weg zur Wahrheit
Es gehört zu den größten Wundern des menschlichen Erkenntnislebens, dass jeder Mensch selbst um Selbsterkenntnis ringen muss und nur sich selbst die Frage nach seinem wahren Wesen beantworten kann. Das kann keiner einem anderen abnehmen. Wir können uns zwar dabei helfen, die letzte Gewissheit muss jedoch jeder für sich selbst erringen und erfahren.
Rudolf Steiner formuliert das in seiner „Philosophie der Freiheit“ so: „Die Natur macht aus dem Menschen ein Naturwesen. Die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes. Ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen (vgl. Mut: Ich-Organisation und Ich-Wesen als Quelle von Mut).“ 1
Christian Morgenstern hat das in einem seiner Gedichte treffend charakterisiert:
Die zur Wahrheit wandern,
wandern allein,
keiner kann dem andern
Wegbruder sein.
Eine Spanne geh‘n wir,
scheint es, im Chor...
bis zuletzt sich, seh‘n wir,
jeder verlor.
Selbst der Liebste ringet
irgendwo fern;
doch wer's ganz vollbringet,
siegt sich zum Stern,
schafft, sein selbst Durchchrister,
Neugottesgrund –
und ihn grüßt Geschwister
Ewiger Bund.2
Wäre dies nicht so, würden uns Menschen die wichtigsten Grundpfeiler unserer Existenz, Selbstverantwortung und Freiheitsbewusstsein, fehlen.
Selbst errungene Freiheit und Erkenntnis
So wie das Wort „ich“ von jedem einzelnen Menschen einerseits nur auf sich selbst angewendet werden kann und dennoch auch ganz objektiv für jeden anderen Menschen gilt, so bleiben die objektiven Schulungswege und Hilfen zur Geisterkenntnis, die schon seit Urzeiten zu den Kulturgütern jeder Religion und jeder nach Wahrheit suchenden Philosophie gehören, unzureichend für den einzelnen, wenn er nicht selbst über diese Themen nachdenkt und durch eigene Erfahrung einen persönlichen Bezug dazu herstellt.
Das sogenannte sichere Wissen des materialistischen Weltbildes stützt sich ausschließlich auf die Sinneserfahrung und ein Denken, das diese physischen Wahrnehmungen verarbeitet und die Endlichkeit des Physischen auf den ganzen Menschen projiziert.
Der Glaube hingegen ist auf die Welt des Seelisch-Geistigen gerichtet, ist für Inhalte und Erkenntnisse offen, die den Sinnen verborgen und auch nicht herzeigbar sind.
Insofern tut sich tatsächlich ein tiefer Abgrund zwischen Wissen und Glauben auf, gibt es scheinbar keine Berührungspunkte zwischen den beiden. Dieses gegenseitige Ausschließen, diese Unvereinbarkeit zweier Wesensanteile des Menschen, erweist sich als das größte Hindernis für die Erlangung krisenfester seelischer Gesundheit und Stärke.
Auch stellt die Annahme des Todes als Ende der Existenz die Bedeutsamkeit der menschlichen Entwicklung als solches infrage (vgl. Gesundheit: Emotionale Gesundheit).
Denn welchen Sinn sollte alle Anstrengung und Mühe haben – gerade auch unter schwierigen Lebensbedingungen –, wenn Existenz und Entwicklung mit dem Tode enden?
Doch bringt uns bereits das Nachdenken über die Frage, warum es so schwer ist, die Brücke zwischen dem materiellen und dem geistigen Dasein zu schlagen, der eigenen Identität ein entscheidendes Stück näher – auch wenn wir noch nicht den Mut und den Willen aufbringen, das Geistige in uns in aller Konsequenz ernst zu nehmen.
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 2. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
- Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, GA 4, 9. Kapitel.
- Christian Morgenstern aus Wir fanden einen Pfad. Werke und Briefe. Stuttgarter Ausgabe Band II, Stuttgart 1992,
S. 207.