Geistige Entwicklung an de Todesschwelle
Was ist aus anthroposophischer Sicht der Sinn davon, dass sich der Gesundheitszustand beim Älterwerden zunehmend verschlechtert?
Und was geschieht aus geistiger Sicht bei Demenz?
Chronische Erkrankungen als Boten der Vergänglichkeit
Für das letzte Lebensdrittel sind chronische Erkrankungen typisch: Diabetes Typ 2, Rheuma, das nicht allzu stark auftritt, Verschleißerscheinungen an den Bandscheiben, Gelenksarthrosen, Gallen- und Magen-Darm-Probleme. Die verschiedenen Systeme funktionieren nicht mehr so gut, die Beschwerden sind anfangs aber noch gut mit dem Leben vereinbar. Sie dienen nicht mehr der Immunisierung von Körper und Seele, sondern haben mit der anstehenden geistigen Entwicklung zu tun.
Der Sinn dieser Funktionsstörungen und Erkrankungen, die jeden mehr oder weniger betreffen – und sei es nur, dass man eine Brille braucht, weil die Augen nicht mehr so mitmachen – liegt offen zutage: Der Mensch muss sich mit der Vergänglichkeit seines Körpers auseinandersetzen (vgl. Sterben und Tod: Dem Tod entgegenreifen). Dadurch wird er mit dem Gedanken an den Tod, an die völlige Zerstörung des Körpers, vertraut gemacht. Mit dem Auftreten einer chronischen Krankheit weiß man plötzlich, dass es nie mehr „gut“ wird, dass man nie mehr ganz gesund wird. Chronische Krankheiten entsprechen den „Boten des Todes“ aus dem Märchen der Brüder Grimm, die jeder mehr oder weniger stark am eigenen Leib erlebt. Das Ausmaß dieser Störungen kann individuell sehr unterschiedlich sein, doch jeder wird damit konfrontiert, keiner bleibt verschont.
Es geht dabei um einen Prozess der „geistigen Immunisierung“: Der Geist lernt sich in der Auseinandersetzung mit chronischen Krankheiten in seiner Unabhängigkeit von Leib und Seele als eigene Identität zu erfassen, die im Geistigen beheimatet ist.
Und auch darum geht es bei diesem Prozess im letzten Lebensdrittel: sich wieder vertraut zu machen mit der Welt des Geistigen, in die wir alle mit dem Tod wieder wie hineingeboren werden. Krankheiten sind legitime Entwicklungsmöglichkeiten und -wege und ermöglichen vielfältige Lernprozesse, deren Wirksamkeit über den Tod hinausgeht. Das gilt auch für Demenz, worauf ich im folgenden Abschnitt näher eingehen möchte.
Was Demenz uns schenkt und lehrt
Wenn man von einer geistig-seelischen Entwicklung des Menschen über die Todesschwelle hinaus ausgeht, zeigt sich der Wert und Sinn eines Lebens mit Demenz in einem völlig neuen Licht (vgl. Demenz: Die positive Botschaft der Demenz). Dann begreift man, dass es unhaltbar ist zu sagen, die Pflege eines Menschen mit Demenz koste zu viel. Diese volkswirtschaftliche Denke ist dann nicht mehr zu vertreten, zumal sie die Würde der betroffenen Menschen völlig außer Acht lässt (vgl. Demenz: Würdige Pflege demenzkranker Menschen). Menschen mit Demenz leben weiterhin ein „gültiges“ Leben, auch wenn sie sich über längere Phasen mit ihrem Geistbewusstsein bereits mehr oder weniger stark vom zeitgebundenen physischen Dasein wie abgekoppelt haben (vgl. Demenz: Schicksalswürde bewahren helfen).
Als pflegende Begleitung kann man oft beobachten, wie der Betroffene hin- und herpendelt zwischen der physischen und der geistigen Welt. Aus physischer Sicht ist er oft schon ziemlich „weit weg“ und plötzlich wieder richtig „da“, ist für Minuten voll präsent und dann gleitet er oder sie wieder weg. Das vollzieht sich in einer Art rhythmischem Geschehen: Wenn nahestehende Menschen auf Besuch kommen, die der Betroffene sehr geliebt hat, spürt man förmlich, wie die Herzensverbindung das weit entfernte Geistbewusstsein wieder wie hereinzieht in den Körper, wie es durch die Augen strahlt. Man kann dabei deutlich empfinden, wie dadurch wieder Leben in das Herz, die Atmung, in das rhythmische atmende mittlere System rinnt und sich dann wieder löst.
Auch wird jeder Mensch, wenn ihm genügend äußere Unterstützung gewährt wird, seine individuelle Todesart finden, die auf natürliche Weise das physische Leben abschließt (vgl. Sterben und Tod: Den eigenen Tod sterben). Das ist genauso wichtig für die Geistgeburt wie eine natürliche Geburt am Lebensanfang. Dabei zählt jeder Tag, den er noch hier verweilt, ähnlich wie bei einer Schwangerschaft, unabhängig davon, ob und in welchem Ausmaß der Sterbende noch im vergänglichen Erdenbewusstsein verweilt oder ob er sich damit begnügt, mit dem jenseitigen Bewusstsein seinen Leib und die anderen Menschen liebevoll von jenseits der Schwelle schauend zu erleben.
Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“ gehalten in Filderstadt am 19.2.2010 und Vortrag „Krankheit und Gesundheit im Lichte des Merkurstabs“, 26.09.2007