Demenz und Geistgeburt
Wie lässt sich die Demenzerkrankung unter dem Gesichtspunkt der Geistgeburt verstehen?
Wie können Pflegende dem Erkrankten dabei helfen?
Geistgeburt über Jahre hinweg
Bei Menschen, die an Demenz erkrankt sind, kann sich der Prozess der Geistgeburt in Hilflosigkeit und Verwirrtheit sogar über viele Jahre hinziehen, bei wenigen Ausnahmen sogar zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre, bevor sich ihr Geist endgültig verabschiedet (vgl. Demenz: Die Phasen der Demenzerkrankung). Das wird aus der materialistischen Weltsicht heraus als großes Drama angesehen, weil man nicht versteht, dass der Geist der Betroffenen diese Zeit braucht, um sich mit der jenseitigen Welt vertraut zu machen, indem er zwischen hier und dort wie pendelt. Dabei löst er sich zunehmend aus den irdischen Gegebenheiten und macht sich mit den geistigen Welten vertraut (vgl. Demenz: Die positive Botschaft der Demenz).
Um diese Prozesse rund ums Sterben zu wissen, kann uns als Pflegenden helfen, den Demenzkranken spirituell würdig zu begleiten, seine geistige Würde wieder wie herzustellen – einfach dadurch, dass wir wissen, was geschieht (vgl. Demenz: Würdige Pflege demenzkranker Menschen).
Der Pflegende als Stellvertreter des Ich
Als Pflegender muss ich versuchen, mich in das Leben eines anderen hineinzuversetzen – hier des Dementen – der langsam auf die Todesschwelle zugeht und dessen Ich bereits zunehmend in der geistigen Welt lebt. Das Grandiose ist, dass man auch bei Bettlägerigen immer wieder für Momente erleben kann, dass das Bewusstsein noch einmal wie „reinschießt“ und ganz bedeutende Dinge gesagt werden, manchmal nur zwei Worte.
Meine Mutter saß im letzten halben Jahr einmal morgens glückstrahlend im Bett, als die Pflegerin hereinkam, und sagte: „Jetzt weiß ich alles. Grandiose Überschau. Alles ist wahr.“ Eine halbe Stunde später reagierte sie wieder aggressiv, weil man ihr die Nägel schneiden wollte und sie Angst hatte vor dem Geschehen, das sich ihr nicht mehr erschloss (vgl. Demenz: Persönliche Erfahrungen).
Der alles Verstehende und der Ängstliche sind ein und derselbe Mensch. Ich als Pflegender kann ihm sein Alltags-Ich ersetzen, da er nicht mehr am Physischen interessiert ist, sondern jetzt mehr im Umkreis lebt und mit dem Hereinwachsen in die geistige Welt beschäftigt ist. Je mehr man sich als Pflegender dessen bewusst ist, kann man die Gesten des Raumschaffens, des Umhüllens und des vorsichtigen Wahrnehmens vollziehen (vgl. Demenz: Schicksalswürde bewahren helfen). Die Haltung gegenüber dem Betroffenen muss dabei sein: „Dein Wille geschehe“ – soweit dies möglich ist. Allein diese Haltung beruhigt und gibt Sicherheit.
Seelenpflege durch Kunst
Durch Sprache und Musik pflegt man auf liebevolle, künstlerische Art die Organe des alternden, auf den Tod zugehenden Menschen. Über Worte und Töne erlebt er unmittelbar den Zusammenklang mit der Erde. Darüber hinaus nimmt die Seele alles Künstlerische, Konzerte, Musik, – gute, starke Musik – mit über die Schwelle. Sie kann mit „ihrer“ Musik noch mitschwingen. Alles, was ein Mensch auf Erden gehört hat, verbindet ihn in der Läuterungszeit der ersten 30 Jahre nach dem Tod noch mit der Erde (vgl. Sterben und Tod: Dreifacher Tod).
Wenn die agitierte Phase der Demenzerkrankung abebbt, lassen Sprache und Bewegung nach, weil der Astralleib sich auch schon gelöst hat. Der Sterbenden geht mehr in ein Ätherisch-Pflanzliches Dasein über. Hier kann man sich bewusst machen, dass Ich und Astralleib schon jenseits der Schwelle sind und der Mensch schon mit Seelen drüben kommuniziert (vgl. Sterben und Tod: Den eigenen Tod sterben). Manchmal wird in hellen Momenten auch davon erzählt, wird von Begegnungen mit Verstorbenen berichtet.
Wenn Demenzkranke die Möglichkeit bekommen ganz langsam und zum Teil auch unter körperlichen und seelischen Schmerzen – also bewusst, wenn auch wenig selbstbewusst – in die Sterbesituation hinein zu reifen, haben sie ihre Geistgeburt wirklich selbst errungen und stehen mit einem völlig anderen Selbstbewusstsein in der geistigen Welt (vgl. Sterben und Tod: Selbstbewusstsein und Wegzehrung im Nachtodlichen).
Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008