Der Tod als Geburtsmoment des Geistes
Was ist unter Geistgeburt zu verstehen?
Wie können wir sie begleiten?
Physische Geburt versus Geistgeburt
Die physische Geburt geht einher mit einer Bewusstseinsverdunkelung und einem totalen Kompetenzverlust. Wir Menschen haben größte Empathie, wenn so ein hilfloses, zappelndes, strampelndes, enorm reagibles Wesen plötzlich unter uns erscheint. Wir sind bereit, ihm jegliche Unterstützung zu geben, die es braucht. Die Erwachsenenwelt scheut sich nicht, fünfzehn, zwanzig, manchmal sogar fünfundzwanzig Jahre für diesen Pflegling zu sorgen – bis schon fast ein Viertel seines Lebens um ist.
Ganz anders verhalten wir uns, wenn es um die Geistgeburt geht. Sie betrifft jeden, wie auch jeder Mensch als hilfloser Säugling geboren wurde, doch sind sich viele der Bedeutung des Todes als Geburtsmoment des Geistes in die geistige Welt hinein nicht bewusst. Und das, obwohl wir uns alle unser ganzes Leben lang auf diesen Punkt zu bewegen. Wir können auch sagen, wir gehen schwanger mit unserem unsterblichen Geist, der im Todesaugenblick aus dem sterblichen Körper befreit und ins geistige Leben hinein geboren wird. Aus Sicht der geistigen Welt ist diese Geistgeburt die Krönung des menschlichen Lebens, das von vielen Wesen freudig gefeiert wird – nur nicht von den Hinterbliebenen.
Problem der Begleitung der Geistgeburt
Warum ist das so?
Warum sind wir uns der Bedeutsamkeit und Heiligkeit des Sterbens nicht bewusst?
Das hat mehrere Gründe. Spätestens im Sterbeprozess sind wir genauso hilflos wie ein kleines Kind – das will niemand wirklich erleben, nicht die Betroffenen und nicht die Angehörigen. Unsere Gesellschaft ist auch gar nicht wirklich darauf vorbereitet, alte Menschen würdig bis an ihr Lebensende zu begleiten. Das überlässt man gerne Spezialisten wie Palliativ-Teams, Sterbestationen und Hospiz-Einrichtungen.
Es sind nicht nur wirtschaftliche Gründe, die uns die Geistgeburt mit ihren hochindividuellen Variationen als so viel beschwerlicher ansehen lassen als die physische Geburt: Bei der physischen Geburt wissen wir ungefähr, was ein Baby braucht. Allzu wenig wissen wir jedoch in unserer materialistischen Zeit darüber, was uns am Lebensende erwartet und was der einzelne Mensch dann braucht. Umso wichtiger ist es, dass wir das Geheimnis des Todes als Geistgeburt sorgfältig studieren und dieses Tor zur geistigen Welt wieder öffnen lernen (vgl. Sterben und Tod: Tod als Geistgeburt begriffen).
Wenn uns als Pflegenden – egal, ob Angehörigen, Medizinern oder professionellen Sterbebegleitern, die spirituellen Entwicklungszusammenhänge klar vor Augen stehen, sind wir in der Lage, die Würde des Menschen beim Sterben zu wahren, auch wenn er immer hilfloser und pflegebedürftiger wird (vgl. Demenz: Schicksalswürde bewahren helfen). Dabei hilft es, wenn wir uns diesen Prozess der Vorbereitung der Geistgeburt in seiner ganzen Schönheit und Bedeutsamkeit vorstellen und uns darüber freuen, dass wir den dahinschwindenden Menschen bis zuletzt begleiten und seinen physischen Körper pflegen dürfen.
Schmerz stärkt spirituelles Selbstbewusstsein
Beim Sterben ist es mit Sicherheit so, dass der Schmerz, den der Betroffene fühlt, sein spirituelles Selbstbewusstsein bestärkt, indem er ihm hilft, sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch-geistig zu spüren. Das ist die Mission des Schmerzes (vgl. Krankheit: Grundlegendes zum Sinn von Krankheit). Fakt ist auch: Je stärker man sich spirituell spüren kann, desto weniger braucht man den physischen Schmerz. Aber oft geht das Sterben durch den Schmerz hindurch, der in jedem Fall mit palliativmedizinischen Mitteln so gut wie möglich behandelt werden sollte. Doch sollte der Sterbende selbst entscheiden dürfen, inwieweit er bewusstseinstrübende Mittel in Anspruch nehmen möchte. Das kann im Rahmen einer Patientenverfügung geregelt werden.
Man ist als Sterbebegleiter in der Situation, dass man jemanden wie ein Geburtshelfer begleiten darf bei seiner Geistgeburt, und dass man alles daransetzt, ihm viele bewusste, sinnvolle, menschliche, intensive Erfahrungen zu ermöglichen (vgl. Sterben und Tod: Selbstbewusstsein und Wegzehrung im Nachtodlichen). Dazu gehört auch, dem Sterbenden die Freude spüren zu lassen, dass man ihn begleiten darf und dass man sich gewiss ist, dass ihn drüben auch Freude erwartet.
Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008