Geist, Seele und Leib
Wie werden Leib, Seele und Geist in der anthroposophischen Menschenkunde definiert?
Leib, Seele und Geist aus Sicht der anthroposophischen Menschenkunde
Wenn wir von Leib oder Körper sprechen, meinen wir den ganzen Organismus, den der Stoffwechsel physisch aufbaut – das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System von den Haarspitzen bis zu den Fußsohlen.
Wenn wir von Seele reden, meinen wir den Organismus des Fühlens, der im Zusammenspiel mit dem leibfreien Willen und dem Denken entsteht.
Und wenn wir von Geist sprechen, meinen wir die Summe der exkarnierten Wesensglieder, die schon ganz außerkörperlich rein spirituell tätig sind.
(vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Schwellen zwischen Körper, Seele und Geist)
Mit Geist wird die von der Materie ganz losgelöste Gesetzlichkeit bezeichnet, also diejenigen geistigen Kräfte, die im Zuge der Ausreifung des physischen Körpers wieder leibfrei geworden sind, die sich quasi wieder exkarniert haben (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Denken, Fühlen und Wollen und Leib, Seele und Geist). Dieser wieder leibfrei gewordene Geist hat dieselben Qualitäten wie die inkarnierten ätherischen, astralen und Ich-Organisations-Kräfte, durch die der Leib entstanden ist – mit nur einem Unterschied: die im Körper wirkenden geistigen Kräfte arbeiten im Sinne der Naturgesetze. Die leibfreien Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens sind auf die individuelle Führung durch das Menschen-Ich angewiesen.
Was unser Geist vermag
Geist ist laut Rudolf Steiner nicht das Gegenteil von Materie, sondern das außerkörperliche Erleben unserer Wesensglieder im Denken, Fühlen und Wollen. Im Geist erwachen wir als Menschen, die
- Gedanken bilden
- Gedanken differenzieren, abwägen, beurteilen
- sich mit Gedanken verbinden, Gedanken realisieren wollen.
Rudolf Steiner sagt in dem Zusammenhang auch, wir müssten lernen im Denken Hell und Dunkel als Qualitäten zu fühlen. Erst wenn wir die Stimmigkeit, Wahrhaftigkeit bzw. Verlo¬genheit und „Verbogenheit“ unserer Gedanken fühlen könnten, wenn wir fähig würden, fühlend zu erkennen, ob Gedanken gerade oder krumm sind, erst dann wären wir urteilsfähig und fähig zu michaelischem Denken. Unser Denken wird also von unserem leibfreien Denken, Fühlen und Wollen gleichermaßen ermöglicht und ist eine rein außerkörperliche, geistige Tätigkeit:
- Der leibfreie Ätherleib liefert das Baumaterial für die Gedanken.
- Der leibfreie Astralleib ist für das Fühlen der Qualität der Gedanken zuständig.
- Aus der leibfreien Ich-Organisation kommt unser Wille zum Denken.
Dergestalt selbständig denken zu lernen, ist Ziel der gesamten Waldorfpädagogik (vgl. Waldorfpädagogik: Ideal und Prinzipien der Waldorfpädagogik).
Urangst vor dem Geist
Der Materialismus hat Angst vor dem Unbekannten, vor dem Geist, weil er auch das Denken, unsere spirituelle Kompetenz, ganz und gar auf die vergängliche Welt reduziert glaubt. Der Geist wird plötzlich zu einem Gespenst, das Angst macht.
Um dieser Angst entgegenzuwirken, muss man lernen, das Denken zwar für die Alltagsverrichtungen einzusetzen – auch da hat es seine Aufgabe – es aber dann loszulösen von diesen nur sinnlich gegeben Dingen (vgl. Denken: Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen). Man muss lernen, sich mit Gedanken zu befassen, die über die Sinneswelt hinausgehen, sich z.B. Gedanken zu machen über „Wahrheit“, „Liebe“, „Freiheit“, „Treue“. Diese Qualitäten kann man als Mensch nur erringen, weil man sie in ihrer Vollkommenheit denken kann. In der Folge kann man daran arbeiten, ein bisschen davon in die sinnliche Wirklichkeit treten zu lassen, indem man das Übersinnliche, das man sich denkend bewusst gemacht hat, im Alltag übt (vgl. Ideale: Die besondere Natur der Ideale).
Manche sehen Treue erst, wenn ein anderer sie lebt. Und der treue Mensch wird sagen, dass sich seine Treue noch steigern ließe. Das trifft auch auf die Qualitäten „Wahrheit“ und „Vertrauen“ zu.
Bewusstsein als Abhilfe gegen Angst
Der Mensch ist in aller Vollkommenheit übersinnlich „da“, indem ich ihn denke, aber als Individuum muss ich mir diese Vollkommenheit noch persönlich erringen. Das geht nur durch Üben. Die Urangst vor dem Geist weckt uns auf für diese Möglichkeiten in unserem materialistischen Zeitalter. Diese Angst kommt zu den seelischen und körperlichen Ängsten noch hinzu. Es geht darum, zu begreifen, dass das Erdenleben uns für unseren übersinnlichen wahren Menschen wach machen soll. Zu versuchen, ihn uns bewusst anzueignen, bis wir wissen, was es wirklich heißt, ein Mensch zu sein, ist das beste Mittel gegen die Angst vor dem Geist. Dadurch finden wir unsere wahre Identität (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit). Das ist ein Prozess, den wir nur auf der Erde vollziehen können. Es gibt ein wunderbares Wort von dem mittelalterlichen Mystiker Meister Ekkehart:
„Wär ich ein König und wüsste es nicht, ich wäre kein König.“
Als ich den Spruch zum ersten Mal hörte, wurde mir bewusst, dass das der Grund ist, warum ich – neben anderen Dingen, die mich auch interessieren – die Anthroposophie so wichtig finde: Anthroposophie heißt übersetzt nur, dass man weiß, was es heißt, ein Mensch zu sein: anthropos – Mensch, sophia – Wissen, Erkenntnis. So wollte Rudolf Steiner die Anthroposophie verstanden wissen. Denn wäre ich ein wunderbarer Mensch und wüsste es nicht, wäre ich vielleicht nur ein von Angst besetztes, scheues, verzagtes Wesen.
Vgl. Vortrag „Angst in Krankheit und Gesundheit“ vom 14. Februar 2007

