Konflikte lösen durch persönliches Engagement
Welche Rolle können persönliche Bezugslehrer im Umgang mit schwierigen Schülern spielen?
Welche Qualitäten erfordert Art der Intervention und Begleitung?
Rolle und Bedeutung eines Bezugslehrers
An der Waldorfschule in Marburg gab es vor Jahren in der zehnten Klasse einen extrem anpassungsgestörten Schüler. Ich studierte damals noch und war als Aushilfsschularzt dort tätig. Ich bekam die Geschichte aus nächster Nähe mit, weil mein Mann als Mathematiklehrer des betreffenden Schülers davon betroffen war. Mit diesem Jungen war es so schwierig, dass das Kollegium überlegte, ihn nach mehreren Verwarnungen, die nichts gebracht hatten, schließlich von der Schule zu weisen. Er war aggressiv, unzugänglich, störte den Unterricht und mobbte andere Schüler. Er provozierte ohne Unterlass. Sein Verhalten war eine Zumutung für alle.
In Fällen wie diesen wurde das Kollegium vor dem „Rausschmiss-Gespräch“ zu einer Art Konklave einberufen, um ein letztes Mal zu sondieren, ob es einen Lehrer gibt, der sich besonders für den Schüler einsetzen möchte. In diesem Fall wollte mein Mann es noch einmal probieren.
Gelungene Krisenintervention
Er ging in der Pause zu dem Jungen und sagte, dass er nach der Schule mit ihm sprechen müsste. Der Schüler begann als Reaktion wieder „Faxen zu machen“. Daraufhin sagte mein Mann zu ihm: „Wissen Sie, jetzt geht es ums Ganze. Es hängt von diesem Gespräch ab, ob Sie hier an der Schule bleiben können oder nicht. Ich möchte gerne, dass Sie bleiben. Deswegen will ich mich mit Ihnen treffen. In dem Moment veränderte sich die gesamte Physiognomie des Jungen und er antwortete völlig normal: „Okay, Herr Glöckler, ich komme.“ Da hat sich wie ein Schalter umgelegt, als ob dieser Schüler nur darauf gewartet hätte, dass ein Mensch ihm signalisiert: „Ich bin für dich da. Ich möchte absolut, dass du hierbleibst. Ich finde dich wichtig.“ Das Gespräch fand auf dem Weg zur Eisdiele statt und gestaltete sich äußerst kurz. Zuerst haben sie über Fußball geredet und kurz vor der Eisdiele hat mein Mann zu ihm gesagt: „Sie wissen ja, worum es geht. Sie müssen dieses vollkommen unmögliche Verhalten für ein Jahr, das ist ihre Probezeit, einfach bleiben lassen." Da blieb der Junge stehen, hat meinen Mann angeguckt, und gesagt: „Ach, Herr Glöckler, nehmen Sie das alles doch nicht so furchtbar ernst.“ Daraufhin sagte mein Mann: „Ich weiß ganz genau, dass Sie nicht so sind, wie Sie tun, aber wir beide müssen es jetzt ernst nehmen. Sie müssen es sein lassen, sonst fliegen Sie von der Schule.“ Daraufhin erwiderte der Junge: „In Ordnung.“ Sie aßen dann ihr Eis und gingen auseinander. Der Junge riss sich ab da zusammen, aber mein Mann musste ihre Vereinbarung jeden Tag konfirmieren, indem er einmal täglich in einer der Pausen oder im Unterricht Blickkontakt aufnahm mit der Frage: „Geht es noch?“
Wenn das Ich auf Urlaub ist
Das sind die Unabwägbarkeiten, die über die Haltung wirken. Wo der Raum dafür fehlt, wenn Interesse und Engagement dieser Art, egal durch wen, zu wenig spürbar sind in einer Schule spitzen sich Verhaltensauffälligkeiten oft zu. Das ist wie eine astralische Provokation, die uns sagen will: „Schaut euch mal an, wie die Seele ausschaut, wenn das Ich auf Urlaub ist und nicht wirklich in der Seele lebt, wenn es nicht wirklich Präsenz zeigt.“
Manche/r Schüler/in braucht vielleicht mehr als andere die Aufrichte, den anteilnehmenden Blick und die Achtsamkeit eines Lehrers. Es geht um das tiefe Interesse an seiner Person und seinem Schicksal, das sich durch wohlüberlegtes Reden vermitteln kann. Die hier benötigten Lehrertugenden sind: Initiative, Interesse, Ehrlichkeit und die Fähigkeit, „nicht sauer zu werden“ (vgl. Waldorfpädagogik: Lehrertugenden und Professionalität). Das kann – nicht immer, aber doch manchmal – Wunder wirken.
Vgl. Vortrag an der Schulärztetagung 2012