Vom Umgang mit sozialen Problemen

Lernen Menschen aus eigenem Antrieb, ohne dass Schwierigkeiten und Hemmnisse von außen ihre Lernprozesse anregen?

Müssen wir nicht, wenn wir keine Konflikte oder Widerstände im Außen erleben, selbst Herausforderungen im Inneren schaffen, um uns aktiv weiterzuentwickeln?

Probleme als Entwicklungsmotivation

Zunächst etwas seltsam anmutende Fragen:

Ist es nicht auch gut, dass wir alle irgendwelche Probleme haben?

Was wären wir ohne unsere Probleme?

Was bliebe übrig, wenn wir alles wegnähmen, was für uns problematisch ist: an uns selbst, am sozialen Umfeld und am lieben Gott?

Wie ginge es uns dann?

Vielleicht glauben die meisten von uns, uns würde es dann endlich gut gehen.

Woher käme dann aber unser Engagement, unser Impuls etwas zu tun, an uns und unseren Beziehungen zu arbeiten?

Nehmen wir nur das Bild vom „Schlaraffenland“. Alle Menschen liegen übersatt mit ausgebreiteten Armen in schönster Natur¬ auf dem Boden, keiner rührt sich mehr: ein Bild gesättigter Zufriedenheit. Es ist zugleich auch ein Bild einer Welt ohne Probleme. Alles ist „gegessen“ – es gibt nichts mehr zu verarbeiten. Das wäre das Ende jeglicher Entwicklung.

An diesem Beispiel sehen wir, dass Probleme und Konflikte offensichtlich auch eine positive Seite haben. Sie bringen uns in Bewegung, sie fordern Lernprozesse und Entwicklungen von uns, die wir ohne unsere Probleme nicht unternehmen würden.

Konflikte auf unterschiedlichen Ebenen

  • In der eigenen Biografie

Es ist gut, sich im Zusammenhang mit diesem Thema einmal vor Augen zu führen, was man den Problemstellungen in der eigenen Biographie verdankt an Entwicklung, an Erfahrungen, ja an Persönlichkeitsreifung, an Sensibilität und Menschenverständnis. Denn die eigenen Probleme, die ich zu verarbeiten versuche, machen mich zugleich sensibel für entsprechende Probleme bei anderen Menschen. Die besten Lebensberater sind diejenigen, die selbst viel durchgemacht haben, und nicht diejenigen, die aus einem angelesenen Wissen heraus gute Ratschläge geben.

  • Im sozial-politischen Kontext

Dann gibt es die großen Zeitprobleme existentieller Art, wie die Schere zwischen Arm und Reich oder die Kriege überall auf der Welt. Sie sind kaum zu ertragen: die Unterdrückung anderer Völker, die Kriegsherde, die von Menschen verursachte Zerstörung der Natur, die Naturkatastrophen, der Hunger in Afrika, die Millionen von Kindesmisshandlungen in aller Welt. Wir blicken auf ein Jahrhundert sozialen Unvermögens und menschlichen Versagens.

Wer über diese Dinge nachdenkt, sie überhaupt an sich heranlässt, dem gehen sie an den Lebensnerv. Sie können einem den Appetit und den Schlaf rauben. Man kann mit Alpträumen aufwachen und sich fragen:

Wo bin ich denn hingeraten?

Warum kann ich nichts tun?

Warum kann ich nicht helfen?

Man steht zunächst ohnmächtig vor diesen großen Weltproblemen. Den individuellen Problemen gegenüber ist die Ohnmacht geringer. Denn hier sind wir selbst aufgefordert, etwas zu deren Bewältigung zu tun.

Sinn von Hemmnissen und Schwierigkeiten

Es ist notwendig,

  • sich einerseits diese individuellen quasi gesunden, weil aktivierenden, Probleme anzuschauen, in denen man immer einen Sinn finden, an denen man arbeiten kann.

  • Andererseits muss man sich auch jenen Problemen stellen, die einem schier unlösbar erscheinen.

Denn in der persönlich-überschaubaren Situation kann prinzipiell deutlich werden, worin der Sinn des Bösen und der Hemmnisse liegt: Wir erfahren dadurch neue, unerwartete Anregungen für unsere Entwicklung. Diese Einsicht kann helfen, sich auch dem unerträglich großen Bösen gegenüber zu sagen: Gemeinsam mit den anderen Menschen und Völkern müssen wir die drängenden Aufgaben der Konfliktbewältigung an-gehen.

Wird dadurch auch die Menschheitsentwicklung in einer Weise gefördert, wie es ohne dieses Leid und die damit verbundene Arbeit nicht möglich wäre?

Gerade in der christlichen Religion, die die Entwicklung zu Freiheit und Liebe prophezeit, wird uns der Passionsweg vor Augen geführt. Gott nimmt sich des großen Leides der Menschheit an, setzt sich selbst dem Bösen aus. Ja, er identifiziert sich damit und wird uns dadurch zum Vorbild. So wie der Christus-Jesus das annehmen und bejahen konnte, so können wir das auch versuchen, wenn wir ihm nachfolgen wollen.

Diese einsichtsvolle Haltung kann eine große Hilfe sein angesichts von katastrophalen Ereignissen. Wir können uns zudem vorstellen, wie der Christus wohl auf diese Situationen blickt, der alles miterlebt und uns Menschen nicht verlässt. Er hat sich nicht gegen das, was ihm geschah, aufgelehnt, sondern hat gesagt: „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Damit hat er den Weg für jede Problemlösung gewiesen: Das Bemühen, wirklich zu verstehen, was in der Welt geschieht und dem Bösen dadurch die Macht zu nehmen.

Schickalseinsicht als Hilfe bei der Problembewältigung

Alle Probleme, die wir haben, begegnen uns in einem bestimmten Kontext, einer bestimmten sozialen Situation. Das heißt, im Grunde genommen sind sie Teil unseres persönlichen Schicksals. So gesehen sind Probleme eben Schicksalsfragen. Sie entstehen, weil im Zwischenmenschlichen, in der Arbeit, in der Familiensituation spezifische Konflikte auftauchen. Und da ist es hilfreich, sich zu fragen:

Warum habe gerade ich mit dieser Sache zu tun?

Was habe ich für einen Begriff vom Schicksal?

Warum befindet sich gerade in meinem Umkreis dieser schwierige Mensch, sodass ich mich permanent mit ihm auseinandersetzen muss?

Angesichts dieser Fragen möchte ich gerne folgende These formulieren: Dass wir heute vielfach so unfähig sind, unsere Probleme anzunehmen und zu bearbeiten, hängt damit zusammen, dass wir keinen zureichenden Schicksalsbegriff haben. Wir sehen die im Schicksal waltenden Kräfte mehr oder weniger als Zufall oder Notwendigkeit an, gegen die wir uns entweder auflehnen und von denen wir meinen, dass wir es nicht nötig haben, uns mit ihnen zu befassen.

Wir müssen dahin kommen, das Schicksal als eine uns persönlich gestellte Aufgabe zu verstehen, die auch um unserer selbst willen da ist und nicht nur die anderen betrifft. Es ist die Frage nach unserer Identifikation mit der vorliegenden Schicksalsgegebenheit. Wer einen Schicksalsbegriff hat, der über ein Erdenleben hinausreicht, und die Frage nach dem Woher und Wohin als zu sich gehörig anzusehen beginnt, bekommt völlig neue Möglichkeiten, an Probleme heranzugehen.

Ehekrise als Beispiel

So wird man im Falle eines Ehescheidungskonfliktes fragen:

Wie wollen wir uns im nächsten Leben wieder begegnen?

Wird das nicht stark von der Art und Weise abhängen, wie wir jetzt auseinandergehen?

Jede Beziehung hat Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es ist nicht möglich, den Faden einer Beziehung auf ewig abzuschneiden. Dieses geht, wenn überhaupt, nur vorübergehend. Schwierigkeiten sind letztlich dazu da, dass wir aus ihnen lernen und sie überwinden, nicht aber, dass wir uns vor ihnen drücken. Denn: Meine Schwierigkeiten von heute haben eben auch Geschichte. So könnte man sich auch fragen:

Könnte es nicht sein, dass ich dem Menschen, an dem ich jetzt leide, etwas schuldig bin aus früherer Zeit?

In welcher Art will ich diese Beziehung weiterführen?

Wie kann ich an dieser Beziehung arbeiten, dass unsere Probleme nicht in ein späteres Erdenleben verlagert werden müssen?

So gesehen wird die Problembewältigung auch zu einer Frage eigener Vergangenheitsbewältigung und konkreter Vorbereitung von Zukunft.

Vgl. „Elternfragen heute“, 2. Auflage, Kapitel über den Umgang mit sozialen Problemen