Freiheit und Würde im Kontext der Menschheitsentwicklung
Was hat der Mensch mit den anderen Naturreichen gemeinsam?
Was unterscheidet ihn von den anderen?
Wem verdankt der Mensch seine heutigen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten?
Was den Menschen mit der Natur verbindet und von ihr unterscheidet
Der irische Gelehrte Johannes Scotus Eriguena (auch Erigena, um 800 bis um 877), den Rudolf Steiner als umfassenden Selbstdenker hochschätzte,1 brachte sein Menschenverständnis in dem Werk „Periphyseon“ (lat: De Divisione Naturae)2 in Form von Fragen und deren Beantwortung zum Ausdruck. Er fragte, was der Mensch mit den Mineralien, den Pflanzen, den Tieren und Engeln gemeinsam habe (vgl. Die neun Erdschichten: Über- und Unternatur des Menschen). Seine Antwort lautet, dass er
- seinen Körper mit den Mineralien gemeinsam habe,
- das Leben mit den Pflanzen,
- die Seele mit den Tieren
- sein Denken mit den Engeln.
- Was ihn von allen anderen Reichen unterscheidet, ist die Fähigkeit selbständig zu urteilen.
Zusammenspiel der Wesensglieder bei der Urteilsbildung
Genau das ist das Kernanliegen des anthroposophischen Schulungsweges (vgl. Anthroposophie: Anthroposophie als Weg zur Wahrheit): den Menschen als Individuum zu befähigen, ein eigenständiges Urteil über sich und die Welt zu bilden. Selbstschulung ist der Weg dahin. Dabei müssen die eigenen Gedanken-, Gefühls- und Willenskompetenzen, die wir unseren Wesensgliedern verdanken, bewusst erkannt und geschult werden (vgl. Wesensglieder: Die Wesensglieder als Gesetzeszusammenhänge). Erst wenn diese auf durchschaubare Weise zusammenspielen, ist man urteilsfähig. Der große qualitative Unterschied zwischen der Ich-Organisation und den drei anderen Wesensgliedern besteht darin, dass das Ich deren „Zutaten“ so integriert, dass sie ein ausgewogenes Ganzes, das Urteil bilden:
Die physische Organisation ermöglicht den Reichtum an Sinneswahrnehmungen und die Willensanspannung zu denken.
Die ätherische Organisation erlaubt über das leibfreie Denkvermögen die schöpferische Anteilnahme an der Umwelt und den Weltgesetzen, auch ‚Weltgedanken’ genannt.
Die astralische Organisation befähigt uns zu einer unmittelbaren Wesensbeziehung durch das Gefühl, die gefühlte Anteilnahme am Anderen.
Die Ich-Organisation, unser freies Willensvermögen, bildet aus den Wahrnehmungsleistungen der anderen Wesensglieder selbsttätig und selbstverantwortlich das gewünschte Urteil.
Dass wir Menschen überhaupt Wesensglieder ausbildeten, verdanken wir nicht uns selbst, sondern Kräften, die bewusst in die Menschheitsentwicklung eingriffen (vgl. Engel: Engelhierarchien und Schöpfungsprozess. Das betrifft auch die Ich-Organisation (vgl. Wesensglieder: Gesunde Wesensglieder dank Christusopfer), die uns als ein Geschenk der Entwicklung erst die Möglichkeit gibt, uns im außerkörperlichen Seelenraum frei zu betätigen.
So gesehen verdanken wir nur das wirklich ‚uns selbst’, was wir im Zuge der Selbstschulung eigeninitiativ und freiwillig aus den Entwicklungsgeschenken weiterentwickelt haben. Nur das sind wir wirklich selbst.
Freier Wille als Garant für Freiheit
Es ist jedoch nur allzu verständlich, dass von naturwissenschaftlicher Seite Freiheit und Würde des Menschenwesens als spirituelle Realität in Abrede gestellt werden. Würde es ‚zwingende Beweise’ für die Existenz der eigenen spirituell-ewigen Identität geben (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit), widerspräche dies dem Autonomieprinzip der Evolution. Es MUSS der persönlichen Einsicht und dem eigenen Willensentschluss des einzelnen Menschen überlassen bleiben, in welche Richtung er sich entwickeln möchte, sonst gäbe es tatsächlich keine Freiheit (vgl. Geist und geistiges Wesen: Geisterkenntnis und Freiheit). Das ist das tiefe Entwicklungsgeheimnis unserer Zeit.
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 20253
- Vgl. Rudolf Steiner, Die Philosophie des Thomas von Aquino, GA 74 und Perspektiven der Menschheitsentwickelung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie. Der Mensch in seinem Zusammenhang mit dem Kosmos, Band IV, GA 204.
- Scotus Eriguena (2016).
- In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.