Individualisierung und Gemeinschaftsbildung

Wie spielen der Individualisierungsprozess und Gemeinschaftsbildung ineinander?

Welche Anforderungen stellen diese polaren Prozesse an den Menschen?

Persönlichkeit versus Individualität

Rudolf Steiner sprach im Zusammenhang mit seinen geisteswissenschaftlichen Forschungen darüber, dass der Erzengel Michael bestimmten Seelen und geistigen Wesen während einer Unterweisung in der geistigen Welt die gesamte Mysteriengeschichte darlegte: von den ältesten atlantischen Zeiten bis zu den apokalyptischen Visionen des Neuen Testaments, den großen Übergang von den alten zu den neuen Mysterien, vom Abstieg der Menschheit auf den Pfaden der Weisheit, die zum Gebrauch der Intelligenz und zum Individualismus führten (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierungsprozesse in der Menschheitsentwicklung). In diesem Kontext verwendete er sinngemäß die Formulierung: „Die Menschheit baute ihre Kultur auf der Spitze der Persönlichkeit auf.“

Dieser „Spitze“ verdanken wir nicht nur unsere Kultur, sie ist auch schuld an der tiefen Verwundung unserer gegenwärtigen Menschheit und der damit verbundenen Kulturkrise. Denn die Persönlichkeit sticht zurück und führt zwangsläufig zum Kampf aller gegen alle, wenn es dem Menschen nicht gelingt, zum Bewusstsein seiner wahren Individualität, seiner Ichheit fortzuschreiten (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierung als Entwicklungsmotiv).

Zweischneidige Natur des Menschen

Jeder muss die zweischneidige Natur des Menschen in sich entdecken:

  • Die eine Seite kann mit den Worten charakterisiert werden: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“

Krieg ist der Vater der individuellen Persönlichkeit, die sich von der ganzen Welt absetzt und sich ihr gegenüber verteidigt. Krieg kann niemals der Vater des Friedens sein. Er kann auch nie der Vater von Gemeinschaftsbildung sein. Insofern ist er gar nicht Vater aller Dinge.

  • Die andere Seite dieses zweischneidigen Schwertes entdeckt der Mensch, wenn ihm bewusstwird, dass in seiner Ichheit der Bezug zur ganzen Menschheit und zur ganzen Welt lebt.

Es gibt nichts in der gesamten Menschheitsentwicklung – und sei es in der fernsten Kultur, in China, bei den Maoris, bei irgendwelchen kleinen indianischen Naturvölkern – das nicht im einzelnen Menschen gewisse Qualitäten und Seiten zum Schwingen bringen kann. Jede neuentdeckte Facette des Ich trägt zu einem tieferen Selbstbewusstsein und zu einem umfassenderen Weltverständnis bei. Die menschliche Ichheit verwirklicht sich in dem Maß, in dem der große Menschheits- und Weltbezug entdeckt und bewusst hergestellt wird.

Weltumspannende Orientierung des gesunden Ich

Alles andere, was wir „ich“ nennen, ist sehr vorläufig. Wie Michael die kosmische Intelligenz inspiriert und verwaltet, den großen Bezug aller Dinge und Wesen untereinander, so ist die Ich-Natur des Menschen die Quelle menschlicher Intelligenz, menschlichen Verhaltens, menschlicher Beziehungsfähigkeit. Diese Ich-Natur wird erst rund und gesund, wenn das Ich sich weltumspannend orientiert und im Sinne der neuen Mysterien zur Gemeinschaftsbildung und zur Integration fähig wird (vgl. Mysterien und Initiation: Mysterien des Willens).

  • Das Leitmotiv der alten Mysterien lautete: „Erkenne dich selbst als Mensch“.
  • Das Leitwort der neuen Mysterien heißt „Gemeinschaftsbildung und Integration“.

Das Motiv der Selbsterkenntnis ist Voraussetzung für die bewusste Bildung von Gemeinschaften aus mündigen „Ich-en“. Aber aus Selbsterkenntnis allein kann sich keine Gemeinschaftsbildung vollziehen (vgl. Gemeinschaft(sbildung): Quellen der Gemeinschaftsbildung im Ätherischen).

Deshalb sprach Michael von der kulturellen Notwendigkeit der Integration, die zum Ende des ersten Jahrtausends nach Christus als Wende von den alten zu den neuen Mysterien verstanden werden müsste, die Mysterien des Zusammenwirkens aller großen Kulturimpulse und Menschheitsströmungen sind. Rudolf Steiner sagt dazu, Michael könne nur auf Erden wirken, wenn Menschen aus den verschiedensten Strömungen sich zu gemeinsamen geistigen Zielen und Aufgaben verbinden.

Vgl. Vortrag „Aufgaben und Ziele heutiger Zweigarbeit“, Farrach, 25.08.1993