Die Kapitel I–VII: Grundlagen zum Verständnis der Gesundheit1
Was zeichnet den gesundheitswissenschaftlichen Ansatz der Anthroposophischen Medizin aus?
Wie unterscheidet er sich von dem pathogenetischen Ansatz der naturwissenschaftlich basierten Schulmedizin?
Welche Reformen wünschte Rudolf Steiner bereits zu seinen Lebzeiten?
Zukunftsweisender gesundheitswissenschaftlicher Ansatz der AM
Kapitel I–VII umfassen den gesundheitswissenschaftlichen Ansatz der Anthroposophischen Medizin. Unter ‚Volksgesundheit‘ verstand man am Anfang des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen hygienische Maßnahmen, genügend Schlaf, gesunde Ernährung und Lebensführung.2 Noch heute stellen Medizinstudenten und Ärzte immer wieder erstaunt fest, wie wenig sie darüber hinaus während ihres Studiums über die Entstehung von Gesundheit erfahren haben im Gegensatz zur Aufklärung über Krankheitsentstehung, d.h. Pathogenese.
Der pathogenetische Ansatz der naturwissenschaftlich basierten Medizin bzw. Schulmedizin hat gegenwärtig mit der molekulargenetischen Steuerungsebene eine gewisse Kulmination erreicht, die in Zukunft mithilfe der Digitalisierung noch weiter optimiert werden wird. Parallel zu dieser Entwicklung hat aber auch die Wissenschaft von den Nebenwirkungen der pathogenetisch fokussierten Therapie zugenommen.3 Daher wird von naturwissenschaftlicher Seite argumentiert, dass ein Arzneimittel, das keinerlei Nebenwirkungen hat, auch nicht wirksam sein kann. Und alles Bestreben geht dahin, Nebenwirkungen bestmöglich zu minimieren bzw. durch den Einsatz anderer Arzneimittel zu kompensieren.
Diesem pathogenetisch orientierten Ansatz steht der gesundheitswissenschaftlich-salutogenetische gegenüber. Dieser hat seine Entwicklung und Kulmination noch vor sich. Er etabliert sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst langsam in der akademischen Welt. Es ist jedoch zu hoffen, dass er dennoch in nicht allzu ferner Zeit die Mitte der Gesellschaft erreichen wird.
Paradigmenwechsel als politische und wirtschaftliche Herausforderung
Denn der Paradigmenwechsel der Umorientierung von der Verhütung von Krankheit zur Förderung von Gesundheit ist zwar proklamiert – ihn lebenspraktisch zu machen ist und bleibt aber die noch bestehende große soziale und politische und nicht zuletzt wirtschaftliche Herausforderung. Denn:
Wie kann man an der Gesundheit verdienen?
Wer macht dafür Lobbyarbeit?
Und: Was braucht es alles zur auch gedanklich-konzeptionellen Neuausrichtung und Umstrukturierung der Ausbildung für die Gesundheitsberufe, insbesondere der Ärzteschaft?
„Wie weit man davon noch entfernt ist, hat auch das weltweit durchgreifende Corona-Pandemie-Management gezeigt, das ausschließlich pathogenetisch orientiert war. Salutogenetisch orientierte Auffassungen bezüglich Erkrankungsrisiken, Prävention und Therapie wurden auch in der medialen Berichterstattung konsequent ausgeblendet oder sogar lächerlich gemacht und bekämpft. Dabei konnten nicht zuletzt auch die anthroposophischen Krankenhäuser auf ihren Intensivstationen dank ihres integrativmedizinischen Vorgehens auch bei Schwerkranken erstaunlich gute Behandlungsergebnisse aufzeigen.4
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die fortschrittliche Medizin ebenso pathogenetisch orientiert, wie es der heutige Mainstream der Medizin immer noch ist. Im Mittelpunkt stand das neue Paradigma einer modernen Zellularpathologie, mit der Aussicht, immer mehr pathologische Prozesse diagnostisch bis auf die molekulare Ebene im Zellstoffwechsel zu erforschen.5
Rudolf Steiners Ruf nach Reformen in der Medizin
Demgegenüber eröffnete Steiner seinen ersten Kurs für Anthroposophische Medizin 1920 mit den Worten: „[…] es ist ja ziemlich selbstverständlich, daß von dem, was Sie wahrscheinlich alle erwarten von der Zukunft des medizinischen Lebens, nur ein sehr geringer Teil in diesem Kursus wird angedeutet werden können, denn Sie alle werden ja mit mir darinnen übereinstimmen, daß ein wirkliches, zukunftssicheres Arbeiten auf dem medizinischen Felde von einer Reform des medizinischen Studiums als solchem abhängt.
Man kann nicht mit dem, was man in einem Kursus mitteilen kann, eine solche Reform des medizinischen Studiums auch nur im Entferntesten anregen, höchstens in der Weise, daß in einer Anzahl von Menschen der Drang entsteht, mitzutun bei einer solchen Reform. […] Dasjenige, was in diesen Vorträgen beigebracht werden soll, das möchte ich erreichen dadurch, daß ich in einer Art von Programm verteile das zu Betrachtende in der folgenden Weise: Erstens möchte ich Ihnen geben einiges, das hinweist auf die Hindernisse, die im heutigen gebräuchlichen Studium bestehen gegen eine wirklich sachgemäße Erfassung des Krankheitswesens als solchem. Zweitens möchte ich dann andeuten, in welcher Richtung eine Erkenntnis des Menschen zu suchen ist, die eine wirkliche Grundlage für das medizinische Arbeiten abgeben kann. Drittens möchte ich auf die Möglichkeiten eines rationellen Heilwesens hinweisen durch die Erkenntnis der Beziehungen des Menschen zur übrigen Welt.“6
Als viertes wünschte er sich Fragen aus dem Teilnehmerkreis, weil er seine Ausführungen ganz nach den Bedürfnissen der anwesenden Fachleute und Studierenden richten wollte.7
Entwicklung von ganzheitlichen Therapieformen
Seither haben sich auch andere an der ‚Ganzheit Mensch‘ und einem neuen Gesundheits- bzw. Krankheitsverständnis orientierte Therapieformen entwickelt – insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg. Beispielhaft seien
- die Gestalttherapie 8 genannt,
- Viktor Frankls (1905–1997) Logotherapie9
- und die humanistische Psychotherapie.
Die Kapitel I bis VII zeigen den methodischen Ansatz für einen solchen Paradigmenwechsel aus anthroposophischer Perspektive auf.
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 202510
- Hierbei handelt es sich um Kapitel aus dem Grundlagenwerk von Rudolf Steiner und Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
- Siehe z. B. Steurer-Stuttgart (1919), Fuchs-Wolfring (1912), Dennig (1919).
- Vgl. Ammon (2001); Stolze (2014).
- Vgl. COVID-19: www.anthromedics.org/PRA-0939-DE; [6.1.2025].
- Vgl. Schipperges (1985).
- Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin, GA 312, S. 13.
- Ebenda, S. 14.
- Vgl. Boeckh (2015).
- Vgl. Frankl (2005).
- In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

