Die Kapitel XIII–XVIII: Zur Therapie und Heilkunst1
Was ist mit der in diesen Kapiteln beschriebenen therapeutischen Denkweise gemeint?
Wie können Aufgabe und Wirkung einer Substanz – hier die Kieselsäure – im Organismus Vorbild für eine therapeutische Denkweise sein?
Was verbindet Ich-Organisation und Kieselsäure?
Innerer Zusammenhang von Kapitel XIV, XVI und XVIII
Diesen Kapiteln liegt eine Komposition zu Grunde, in der 2 × 3 Kapitel einen engeren inneren Zusammenhang haben, obgleich sie nicht aufeinander folgen.
- a. Therapeutische Denkweise
Den Schlüssel zu dieser Komposition bietet der letzte Satz von Kapitel XVIII, wo es über die Heileurythmie heißt, „dass man sie durchaus als ein segensreiches Glied unserer hier dargestellten therapeutischen Denkweise ansprechen kann“.2 Dadurch entsteht ein unmittelbarer Bezug zu Kapitel XIV „Von der therapeutischen Denkweise“. Darin wird anhand der Wirkung der Kieselsäure im menschlichen Organismus das Wesen der in diesem Kontext gemeinten therapeutischen Denkweise geschildert.
Wer oder was bestimmt den Charakter einer bestimmten Denkweise?
Gemäß Rudolf Steiner und Ita Wegman übernimmt die Ich-Organisation, „die sich seelisch frei im Denken darlebt“,3 diese Aufgabe.
- b. Gestaltungskraft von Kalk und Kiesel
Was aber verbindet die Ich-Organisation mit der Kieselsäure?
Mit dieser Frage tut sich ein weiteres Kapitel der anthroposophischen Substanz-Erkenntnis auf: die polare Wirkensweise von Kalk und Kiesel, auf die Steiner in vielen Vorträgen zu sprechen kommt. Im „Landwirtschaftlichen Kurs“ heißt es, nachdem Steiner die eiweißbildenden Elemente Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff und Schwefel geschildert hat:
„Wie weit man davon noch entfernt ist, hat auch das weltweit durchgreifende Corona-Pandemie-Management gezeigt, das ausschließlich pathogenetisch orientiert war. Salutogenetisch orientierte Auffassungen bezüglich Erkrankungsrisiken, Prävention und Therapie wurden auch in der medialen Berichterstattung konsequent ausgeblendet oder sogar lächerlich gemacht und bekämpft. Dabei konnten nicht zuletzt auch die anthroposophischen Krankenhäuser auf ihren Intensivstationen dank ihres integrativmedizinischen Vorgehens auch bei Schwerkranken erstaunlich gute Behandlungsergebnisse aufzeigen.4
Der Bergkristall (als SiO2 eine reine Silicium/Sauerstoffverbindung) erscheint unter diesem Aspekt wie ein Urbild. Kosmisches und irdisch machender Sauerstoff sind in reinster Stimmigkeit auf einander bezogen. Die kosmische Gestaltungskraft manifestiert sich
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im Irdisch-Unbelebten in Form der Bildung von Urgestein.
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und bei den Lebewesen als Gerüstsubstanz.
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In der menschlichen Konstitution verwandelt sich in Folge der Metamorphose die leibliche Bildetätigkeit in Gedankentätigkeit in Form von Wahrnehmen und Denken und wendet sich so wieder dem Kosmos zu.
- c. Irdisch-kosmische Zusammenhänge verstehen
Aus anthroposophischer Perspektive5 handelt es sich hierbei um die allumfassende kosmisch-ätherische Gestaltungskraft,
- die einerseits dem Leib Leben einhaucht
- und andererseits Grundlage für selbstgeführtes Denken ist.
Je mehr es gelingt, in solchen Zusammenhängen zu denken, Irdisches und Kosmisches in ihrem Aufeinander-bezogen-Sein zu erkennen, desto therapeutischer wird die Denkweise werden. Dann kann sie Lebenszusammenhänge verstehen, dem Leben dienen und gesunde individuelle und soziale Entwicklungen fördern.
Dann kann sie endlich auch die Wunden heilen, die infolge der reduktionistischen Denkweise entstanden sind und weiter entstehen, wenn sich der atomistische Monismus nicht mit einem ganzheitlich-spirituellen Monismus Goethe’scher Prägung versöhnen lässt.
Heileurythmie als ‚Tun‘ der Ich-Organisation
In der Heileurythmie wird diese irdisch-kosmische Tätigkeit der Ich-Organisation nicht nur ‚gedacht‘, sondern ‚getan‘. Denken, Fühlen und Wollen sind beim konzentrierten Ausüben der heileurythmischen Bewegungen dem Körper zugewendet, wodurch das Stoffwechselgeschehen und die rhythmischen Funktionen unmittelbar beeinflusst werden können. Wie sehr Bewegung und Atmungsregulierung den Gesundheitszustand beeinflussen können, ist inzwischen auch naturwissenschaftlich hinreichend belegt. Entsprechende Präventionsprogramme haben sich insbesondere in der Kardiologie seit Jahrzehnten bewährt.6 Auch die Rehabilitationseinrichtungen bauen ihre Maßnahmen primär auf gesunde Ernährung, Bewegung, Gespräch und kulturelle Aktivitäten auf.
Die innere Beziehung zwischen Kapitel XIV und XVIII wird ergänzt durch Kapitel XVI, das nicht ohne Grund in der Mitte steht. Dieses Kapitel handelt vom Antimon unter der Überschrift „Heilmittel-Erkenntnis“. Dabei werden die Antimonprozesse als diejenigen beschrieben, die in den menschlichen Organismus gebracht, so wirken wie die Ich-Organisation.
„Im menschlichen Organismus zeigt das Blut in seiner Strömung eine Tendenz, zu gerinnen. Diese Tendenz ist diejenige, die unter dem Einfluss der Ich-Organisation steht und unter ihr die Regulierung erfahren muss.“7
Innerer Zusammenhang von Kapitel XIII, XV und XVII
Die zweite Dreiheit handelt vom krankhaften Zusammenspiel der Wesensglieder und den für den therapeutischen Prozess charakteristischen Heilmitteln bzw. Arzneisubstanzen.
- a. Zwischen kränkenden und gesundenden Kräften
Hier steht das individuelle Therapiegeschehen im Vordergrund. So lautet die Überschrift von Kapitel XIII „Vom Wesen des Krankseins und der Heilung“ und beginnt mit dem Wort ‚Schmerz‘ als einem Erlebnis im astralischen Leib und im Ich. Es folgt dann eine kurze Charakteristik des unterschiedlichen Zusammenwirkens der Wesensglieder im Laufe des Lebens zwischen Geburt und Tod. Hauptaugenmerk bei der Therapiefindung liegt hier auf dem sensiblen Zusammenspiel zwischen der kränkenden astralischen und der gesundenden ätherischen Organisation. Diese Betrachtung findet ihre Fortsetzung in Kapitel XV, wo es unter der Überschrift „Das Heilverfahren“ heißt:
„Denn alle Entwicklung des menschlichen Organismus beruht darauf, dass ursprünglich die Gesamtgestaltung des physischen und ätherischen Leibes aus der Tätigkeit des Astralischen und der Ich-Organisation sich ergibt; dass aber mit zunehmendem Alter die astralische und Ich-Tätigkeit in der physischen und ätherischen Organisation weiterlaufen. Tun sie das nicht, so müssen der astralische Leib und die Ich-Organisation in einem Stadium ihrer Entwickelung in einer Art eingreifen, zu der sie in diesem Stadium nicht mehr geeignet sind.“8
- b. Ich-Organisation entlastende Heilmittel
Dann bedürfen sie der regulierenden Unterstützung durch Heilmittel, die die beiden oberen Wesensglieder von ihrem nicht mehr entwicklungsgerechten Eingreifen entlasten und die physische und ätherische Organisation so stärken, dass das unregelmäßige Eingreifen der oberen Wesensglieder zur Kompensation der geschwächten physisch-ätherischen Konstitution nicht mehr nötig ist. Zusätzlich kompliziert werden Diagnostik und Therapie dadurch, dass „die Richtung der Krankheitswirkungen“9 ebenfalls verfolgt werden muss im Sinne der primären Ursache der Störung und deren Folge.
- c. Bedeutung von Ameisensäure und Kleesäure
Abgerundet wird die Betrachtung dieser Dreiheit mit Kapitel XVII „Substanz-Erkenntnis als Grundlage der Heilmittel-Erkenntnis“, in dem zwei Substanzen im Mittelpunkt stehen, die in der Biochemie des Zellstoffwechsels eine wichtige Rolle spielen: Ameisensäure und Kleesäure.
Hexagramm aus zwei Dreiecken
Während die erste Dreiheit primär bezogen ist auf die Erscheinung der menschlichen Gestalt im Raum und ihrem Formaspekt im Reich der Natur, widmet sich die zweite Dreiheit dem Wandel der menschlichen Konstitution in der Zeit. Fügt man die beiden Dreiheiten zusammen, so ergibt sich das therapeutische Ur-Symbol des Hermes Trismegistos bzw. das Siegel Salomos, das Hexagramm, in dem ein Dreieck mit der Spitze nach unten sich durchdringt mit einem zweiten Dreieck, dessen Spitze nach oben weist. Es ist das ägyptisch-hermetische Zeichen für das harmonische Zusammenwirken von Makrokosmos und Mikrokosmos.
Die Spitze des ersten Dreiecks, die nach unten weist und dessen Basis oben ist, wäre Kapitel XIV. In der Heileurythmie wird über die rhythmisch wiederholten Bewegungsübungen daran gearbeitet, den Menschen im Raum bei der Wiederherstellung seiner urbildlichen aufrechten Gestalt zu unterstützen. Basis dafür ist eine therapeutische Denkweise, die innere Aufrichtekraft (wirklichkeitsgemäßes ‚aufrichtiges‘ Denken) und Heilmittel-Erkenntnis aus dem Mensch-Natur-Zusammenhang adäquat verbindet.
Das zweite Dreieck, dessen Spitze nach oben weist und das seine Basis unten hat, handelt vom Schmerzerleben und dem Wesen der Krankheit als weckendem Begleiter des Menschen im Verlauf des Lebens. Es zeigt durch die Basis unten die starke Beziehung des Makrokosmus zum Menschen und den ihn umgebenden Naturreichen als heilsamem Begleiter.
Heilkunst als Kunstwerk Heilung
Was ist also im Kontext dieser Ausführungen mit Heilkunst gemeint?
Es handelt sich dabei um einen Diagnoseprozess, aus dem sich die Therapie unmittelbar ablesen lässt. Dazu braucht es solides medizinisches Grundlagenwissen – auch bezüglich der Gesetzmäßigkeiten der körperlich-seelischen Reifung und den Alterungsprozessen in der zweiten Lebenshälfte. Dieses Wissen und die dadurch möglichen therapeutischen Kompetenzen sind sozusagen das „Material“ für den künstlerischen Prozess. Damit aber im Einzelfall das „Kunstwerk Heilung“ geschaffen werden kann, dazu braucht es die unmittelbare Beobachtung und die therapeutische Denkweise im Hier und Jetzt der konkret gegebenen Krankheitssituation in ihrem Umfeld. Im günstigen Fall sind Besserung und Heilung die Folge des therapeutischen Bemühens, an dem beide – der Behandelnde und der Betroffene – mitschöpferisch tätig sind. So gesehen handelt es sich immer auch um ein „soziales Kunstwerk“.
„Dass dabei nicht nur medizinisches Wissen, sondern auch Fähigkeiten wie das Erfassen des rechten Zeitpunkts (ϰαιρός), diagnostische Empathie und therapeutische Intuition eine wichtige Rolle spielen, zeichnet den künstlerischen Prozess aus.“10
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 202511
- Hierbei handelt es sich um Kapitel aus dem Grundlagenwerk von Rudolf Steiner und Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
- Vgl. FN 1, S. 88.
- Vgl. FN 1, S. 15.
- Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft. Landwirtschaftlicher Kursus, GA 327, 66 f.
- Vgl. FN 1, S. 6.
- Siehe z.B. die Pocket-Leitlinie Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. Giehlen u. a. (2021).
- Vgl. FN 1, S. 79.
- Vgl. FN 1, S. 74.
- Vgl. FN 1, S. 75.
- Vgl. Fintelmann (2016).
- In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

