Die Kapitel XIX und XX: Einblicke in eine rationelle Diagnostik und Therapie1
Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit von Rudolf Steiner und Ita Wegman rund um dieses Werk?
Unter welchen Aspekten wurden die angeführten Krankengeschichten durchgesehen und veröffentlicht?
Welchem Zweck dienen diese Krankengeschichten?
Zur Entstehung der Textgrundlage
Während die Kapitel I bis XVIII in der Handschrift Steiners vorliegen, sind die beiden letzten Kapitel XIX und XX von Ita Wegman niedergeschrieben. Es gilt jedoch für alle 20 Kapitel dieses Buches, dass sie in intensiver gemeinsamer Arbeit von beiden Autoren verfasst wurden. Wann genau die einzelnen Kapitel entstanden sind, wissen wir zwar nicht.
Walter Holtzapfel hatte aber als dritter Nachfolger in der Leitung der Medizinischen Sektion2 noch viel Gelegenheit, mit Menschen zu sprechen, die den eineinhalbjährigen Prozess der Entstehung des Buches miterlebt haben. Von ihm stammt die Mitteilung, dass ein um das andere Kapitel „von den beiden Autoren gemeinsam durchgesprochen und dann zunächst von Frau Dr. Wegman formuliert und niedergeschrieben wurde. Gewiss stammt die endgültige Formulierung wohl fast immer von Rudolf Steiner.“3
Zu den Krankengeschichten
Von den neun in das Buch aufgenommenen Krankengeschichten wurden der vierte und fünfte Fall bereits am 23. April 1924 im Rahmen einer Dornacher Ärztebesprechung von Ita Wegman vorgelesen und von Rudolf Steiner eingehend im Gespräch kommentiert.4 So können wir davon ausgehen, dass zumindest diese Kasuistiken schon während des ersten halben Jahres der gemeinsamen Arbeit entstanden sind, d.h. dass von Beginn an die gemeinsame Arbeit am Buch stets auch in direkter Resonanz war mit konkreten Menschen und ihrem Krankheitsschicksal. Ganz abgesehen von den zahlreichen Vortragsreisen im Jahre 1924, bei denen Wegman ebenfalls mitreiste und wo ihnen jeweils Patienten vorgestellt und deren Therapie beraten worden war.5
Es muss an dieser Stelle aber auch klar hervorgehoben werden, dass es die Kollegin und enge Mitarbeiterin Ita Wegmans – Hilma Walter – gewesen ist, der die Dokumentationen der Krankengeschichten des „Klinisch-Therapeutischen Instituts“ zu verdanken sind, die den für das Buch formulierten Texten zugrunde liegen.
Diese Dokumentationen wurden 2007 von Peter Selg in der Originalfassung herausgegeben, so dass sie heute eingehend studiert und auch im Detail mit der textlichen Abfassung in Kapitel XIX verglichen werden können.6 So wird auch deutlich, was Wegman direkt aus Walters Kasuistiken übernommen hat und was von den Autoren gekürzt, neu formuliert und auch ausgelassen wurde. Walter hat dann auch in ihrer Endredaktion des Buches nach Steiners Tod vor der Drucklegung insbesondere die Krankengeschichten noch einmal gründlich durchgesehen und wo nötig noch etwas gestrichen, damit keiner der dort geschilderten Patientinnen und Patienten in dem gedruckten Buch wiedererkannt werden konnte.7 Waren es doch fast ausnahmslos Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, um die es jeweils ging.
Zu Peter Selgs Dokumentation von Krankengeschichten
Selg hat für seine Publikation nicht nur die Krankenunterlagen dieser neun Patienten im Original studiert, sondern auch die zugehörigen Notizbucheinträge im Nachlass Hilma Walters, die Ärzte- und Patientenkorrespondenz Wegmans sowie weitere Nachlassunterlagen. So liegen die Krankengeschichten aus Kapitel XIX gesichtet und aufgearbeitet vor und sind Grundlage für weitere Forschung. Er schreibt dazu insbesondere im Hinblick auf noch zu leistende weitere Kontextualisierungen dieser Krankengeschichten:
„Je plastischer die Kranken- und Therapiegeschichten jedoch selbst werden (indem man zwischen dem Original der Krankenakte und der Buchwiedergabe vergleichen kann – M.G.), umso klarer wird das methodische Gewichtungs- und Auswahlverfahren der Buchdarstellung erkennbar. In diesem Sinne vermögen die hier erstmals publizierten Materialien, verschiedene Aspekte deutlicher hervortreten zu lassen, darunter auch die Zeitgestalt der (oft monatelangen) Behandlung, der einzelnen Schritte und Vorgehensweisen, der therapeutischen Erfolge, aber auch der Rückfälle und weiter bestehenden Schwierigkeiten, die Teil der Kranken- und Behandlungsgeschichte waren. Sie bieten daher Anlass und Voraussetzung für ein erneutes und eingehendes Studium der Kasuistiken selbst.
Im Rahmen dieser Dokumentation wurde konsequent davon abgesehen, die zur Darstellung kommenden diagnostischen und therapeutischen Prozesse im Einzelnen zu kommentieren und zu bewerten; ein solcher Kommentar – vor dem Hintergrund der gesamten anthroposophischen Physiologie, Pathophysiologie und Therapeutik und in Auseinandersetzung mit einer schulmedizinischen Interpretation der verschiedenen Krankheitsfälle – soll zu einem späteren Zeitpunkt erarbeitet und publiziert werden.“8
Leuchtende Vorbilder für Wesensgliederdiagnosen
Diese von Selg in Aussicht gestellte Publikation konnte jedoch bisher nicht realisiert werden, bzw. bleibt ein weiterhin lohnendes und erforderliches Desiderat. Denn beides – der Hintergrund der gesamten anthroposophischen Physiologie, Pathologie und Therapeutika sowie die schulmedizinische Kontextualisierung – sind große Arbeitsvorhaben, die eigentlich nur im Team zu leisten sind und viel Zeit erfordern. Dennoch kann jeder interessierte Arzt auch aus dem bis jetzt vorliegenden Material unschätzbare Anregungen für die eigene Arbeit entnehmen.
Der anthroposophische Internist Friedwart Husemann (1945–2022) schreibt in seinem Kurzporträt über die „Erweiterung der Heilkunst“: „Bei den Krankengeschichten geben die Autoren Wesensgliederdiagnosen und sehr individuelle Heilverfahren, die für den anthroposophischen Arzt von heute ein leuchtendes und selten erreichtes Vorbild darstellen.“9
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 202510
- Hierbei handelt es sich um Kapitel aus dem Grundlagenwerk von Rudolf Steiner und Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
- Nach Wegmans Tod wurde zunächst eine Interim-Gruppenleitung eingesetzt – bis dann 1963 die enge Mitarbeiterin Wegmans in ihrem Arlesheimer Klinisch-Therapeutischen Institut, Margarete Kirchner-Bockholt (1894–1973), für ihre Nachfolge nominiert wurde, die sie dann nach ihrem Ausscheiden an Holtzapfel übergab.
- Holtzapfel (1973), 51–53.
- Vgl. Rudolf Steiner, Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. Zur Therapie und Hygiene, GA 314, S. 337–349.
- Vgl. Selg (2007), 15f. und 21f.
- Ebd., 22.
- Ebd., 23f.
- Selg (2007), 25.
- F. Husemann (2018), 323.
- In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

