Kapitel VIII–XII: Die fünf Hauptursachen pathologischer Prozesse1
Worum geht es in diesen Kapiteln?
Welche Parallelen gibt es zu Paracelsus Sichtweise auf Krankheitsursachen?
Welche Regulationsmöglichkeiten bietet das Wesensglieder-Konzept?
Fünf prinzipielle pathophysiologische Erscheinungen
Die fünf der Pathologie gewidmeten Kapitel haben paradigmatischen Charakter. Es geht nicht um einzelne Krankheitsbilder – obgleich Beispiele genannt werden – es geht um prinzipielle pathophysiologische Erscheinungen aufgrund typischer Ungleichgewichte im Zusammenspiel der Wesensglieder. So wundert es auch nicht, dass so prominente Krankheitsbilder wie z.B. der Krebs keine Erwähnung finden. Auch die Mistel (Viscum album), als das bekannteste anthroposophische Arzneimittel – obgleich bereits seit 1917 durch Wegman in ihrer Zürcher Praxis im Einsatz2 – findet (in Kapitel XX) keine Erwähnung.
Es geht vielmehr um Beschreibungen pathologischer Stoffwechselprozesse, die bei der Verdauung der Grundnahrungsmittel: Kohlenhydrate, Eiweiße, Fette auftreten können (Kap. VIII–X) sowie die Pathophysiologie der Gicht-Erkrankung, die als Beispiel einer meist hereditären, d.h. genetisch bedingten, Stoffwechselstörung auftritt (Kap. XI). Zuletzt werden in Kapitel XII typische Regulationsweisen im labilen Gesundheits-Krankheits-Kontinuum aufgezeigt, das jederzeit in Richtung Krankheit entgleisen oder sich in Richtung Gesundheit entwickeln kann.
Es zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass diese fünf Schilderungen Schlüssel und Ausgangspunkt zum Verstehen aller Krankheitserscheinungen sind. Sie haben einen ebenso fundamentalen Charakter wie die anderen Kapitel im Kontext der Schrift, da die Autoren sich auf den methodischen Ansatz beschränken, den es dann unbegrenzt weiter auszugestalten und zu erforschen gilt. Die fünf Kapitel sind sozusagen Pathologie ‚in a nutshell‘, d.h. Pathologie im Keimzustand.
Parallelen zu Paracelsus „quinque entibus“
Interessanterweise sprach auch Paracelsus in seinem „Volumen Paramirum“ von fünf Krankheitsursachen: „De quinque entibus“. Schaut man sich sein Konzept unter dem Aspekt der anthroposophischen Menschenkunde an, so ist darin – wie auch in den fünf Pathologie-Kapiteln der Erweiterung der Heilkunst – jeweils eines der vier Wesensglieder in der Hauptverantwortung für die entsprechende Regulationsstörung. Elise Wolfram (1868–1942) hat diesen Aspekt schon 1912 in einem viel beachteten Buch herausgearbeitet. Sie war durch Rudolf Steiners Ausführungen zu Paracelsus und seine Bedeutung für die Medizin dazu angeregt worden. Seither wurde dieser paracelsische Ansatz wiederholt von anthroposophischen Ärzten mündlich und schriftlich dargestellt.4
Im „Volumen Paramirum“ lässt Paracelsus sechs Ärzte sich um einen an der Cholera verstorbenen Patienten versammeln, fünf als Vertreter bestimmter medizinischer Auffassungen (‚Sekten‘), während der sechste Paracelsus selbst ist. Gründlich werden in diesem Zusammenhang fünf mögliche Ursachen und deren jeweilige Beschleuniger abgehandelt: das ‚Ens astrale‘, ‚Ens veneni‘, ‚Ens naturale‘, ‚Ens spirituale‘ und ‚Ens deale‘. Man möchte wissen, welches ‚Ens‘ letztlich verantwortlich war für den Tod, denn nicht alle Cholerakranken starben bei der Epidemie. Es muss also verschiedene Ursachen geben, warum dieser Mensch erkrankt bzw. verstorben ist.
- 1. Ens astrale – physischer Leib
Hier liegt die Ursache entweder in den individuellen Schicksalsgegebenheiten eines Menschen, der durch seine Geburt in einer bestimmten Erdgegend, einem bestimmten Volks- und Familienzusammenhang sowie entsprechenden sozialen Verhältnissen lebt, und den daraus resultierenden, der Gesundheit schädlichen oder sie fördernden Einflüssen ausgesetzt ist. Diese primär physische Krankheitsursache, zu der auch das kontaminierte Wasser gehört, das die Cholera-Epidemie verursacht hat, wird bezeichnenderweise von Paracelsus ‚Ens astrale‘ genannt.
Es wird dabei auf das Geburtshoroskop verwiesen, auf den ganzen Schicksalskontext dieses bestimmten Menschen in seinem makro-mikrokosmischen Zusammenhang. Dabei unterscheidet Paracelsus klar den Einfluss der Gestirne auf den Menschen als ‚Ens virtutis‘ von dem ‚Ens seminis‘, dem von der Erde stammenden Erbgut, das für die Körperkonstitution verantwortlich ist und damit ebenfalls für möglichen Schutz vor Erkrankung oder aber begünstigend für ihr Auftreten.
Überträgt man diese Vorstellungen in die anthroposophische Terminologie, so geht es hier um den Einfluss der physischen Organisation in Resonanz mit dem auf sie einwirkenden Schicksalsumkreis.
- 2. Ens veneni5 – Ätherleib
Hier wird auf den Ursachenzusammenhang gewiesen, der mit der Ernährungsweise und dem Lebensstil zusammenhängt und dem rechten Maß im Sinne des berühmten Spruches: „Dosis facit venenum“, d.h., nur die richtige Dosierung, das richtige Maß des jeweils zur Anwendung kommenden Heilmittels ist das Gesundheit stiftende. Diesem Aspekt entspricht in der Anthroposophischen Medizin die ätherische Organisation und die sie umgebende Lebenswelt.
Der Bergkristall (als SiO2 eine reine Silicium/Sauerstoffverbindung) erscheint unter diesem Aspekt wie ein Urbild. Kosmisches und irdisch machender Sauerstoff sind in reinster Stimmigkeit auf einander bezogen. Die kosmische Gestaltungskraft manifestiert sich
- 3. Ens naturale – Astralleib
Dieser Ursachenkontext verweist auf das individuelle Bewusstsein des Menschen und dessen Zusammenhang mit dem Makrokosmos. Die Vielheit der Erscheinungen in der Einheit des menschlichen Bewusstseinshorizontes: das Firmament, die Elemente, die ‚complexiones‘ (konstitutionelle Gegebenheiten), die ‚humores‘ (Körpersäfte). Mit all diesen Gegebenheiten setzt sich der Mensch in seinem bewussten Seelenleben auseinander und seine Gesundheit hängt davon ab, wie er sich darin fühlt und damit umgehen lernt. In der anthroposophischen Terminologie entspricht dies der astralischen Organisation als Träger des körperbezogenen, seelisch-gefühlsmäßigen Bewusstseins und des gedanklich wachen Geist- bzw. Selbst-Bewusstseins. Hier liegt die Krankheitsursache in der „Geist- und Seelenfähigkeit“ des Menschen6 und deren Einfluss auf die ‚humores‘, d.h. die ätherisch-physische Konstitution.
- 4. Ens spirituale – Ich-Organisation
Diese Betrachtungsebene betrifft bei Paracelsus die magische Beeinflussung von Wesen zu Wesen. Es geht um den Menschen, der, zwischen Göttern und Dämonen lebend, Verführungen ausgesetzt ist und dessen Gesundheit auch durch Fürbitte und Gebet beeinflusst werden kann. Geistiges wirkt in jeder Beziehung direkt auf Geistiges und von dort aus auf die ihm untergeordneten Ebenen der konstitutionellen Gegebenheit. In der anthroposophischen Terminologie entspricht dies der Ich-Organisation, die über den Wärme-Organismus auf den Luftorganismus als Träger der astralischen Kräfte wirkt und durch diesen auf den Flüssigkeitsorganismus als Träger der ätherischen Kräfte – und durch diesen wiederum auf die physische Organisation, die ihrerseits dann über die Sinne und die Betätigungen während des Tageslebens auf die Ich-Organisation zurückwirkt.7
- 5. Ens deale – Leibfreies Seelen- und Geistesleben
Paracelsus, dessen Denken und Handeln tief in der christlichen Theologie und Kultur verankert war, spricht hier das Hereingestellt-Sein des Menschen in einen gottgewollten Entwicklungskontext an, hinorientiert auf die beiden menschlichen Kernkompetenzen Freiheit und Liebe. Zusammengefasst heißt es bei Paracelsus: „Ihr wisset, daß alle Gesundheit und Krankheit von Gott kommt und nichts vom Menschen, und ihr müßt die Krankheiten der Menschen in zween Gruppen teilen, in natürliche und in solche zur Züchtigung. Die natürlichen, das sind das erste, zweite, dritte und vierte ens: das flagellum ist das fünfte.“8
Die ersten vier ‚Entien‘ entsprechen im anthroposophischen Kontext den vier Wesensgliedern, das fünfte hingegen der ‚quinta essentia‘, dem von der körperlichen Gebundenheit freien Seelen- und Geistesleben des Menschen, mit dem er sich bewusst in der göttlich-geistigen Welt verankern kann.9 Es handelt sich dabei um das rein spirituelle Prinzip, von dem auch schon Aristoteles als ‚πέμπτη ουσία‘ (fünftes Seiendes) sprach: das fünfte ‚ens‘ im Sinne des Paracelsus. Hier liegt die Ursache für Krankheit und Tod sozusagen in der Hand Gottes. Hier waltet die Weisheit des Schicksals und nicht die ärztliche Kunst.
Alte Sichtweisen durch Geisteswissenschaft aktualisiert
Der Vergleich mit dem paracelsischen Verständnis von Krankheit und Gesundheit kann einerseits deutlich machen, wie mithilfe von Steiners Geisteswissenschaft spirituelle Sichtweisen aus früheren Jahrhunderten dem gegenwärtigen Bewusstseinszustand der Menschen neu zugänglich gemacht werden können. Andererseits kann ein solcher Vergleich auch deutlich machen, wie eigenständig und originär Steiners Forschungsansätze und Ausführungen sind. Seine Geisteswissenschaft versteht sich als ein zeitgemäßer Weg, sich das im Sinne Goethes ‚alte Wahre‘ erkennend und handelnd zu erschließen.10
In den Kapiteln VIII–XI steht jeweils ein menschliches Wesensglied ursächlich für das Krankheitsgeschehen im Mittelpunkt. Wobei es stets die Schwäche der Ich-Organisation ist, die initial für die jeweils geschilderten Stoffwechselstörungen und pathologischen Prozesse verantwortlich ist.
Kapitel XII hingegen beschreibt das Ringen dieser Ich-Organisation, die konstitutionelle Balance aufrecht zu erhalten. Auffällig ist dabei, dass die vier ersten Pathologie-Kapitel in ihrer Gesamtheit Symptome und Erkrankungen beschreiben, die inzwischen als das Metabolische Syndrom bekannt sind.11
- Das Metabolische Syndrom
Es umfasst einen Cluster von
- (vor allem viszeraler) Adipositas,
- gestörter Glukosetoleranz,
- Fettstoffwechselstörungen,
- arterieller Hypertonie, einschließlich möglicher genetischer Prädispositionen.
Es gilt als Vorstufe des Diabetes mellitus Typ 2 und ist zudem prädiktiv für ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko.
Zusammenhänge zwischen Adipositas und diversen Stoffwechselerkrankungen wurden auch schon zu Lebzeiten von Steiner und Wegman beschrieben.12 Nach Hanefeld dokumentierte bereits Giovanni Battista Morgagni (1682–1771) den Zusammenhang zwischen viszeraler Fettsucht, Hypertonie, Gicht, Schlafapnoe und Arteriosklerose.13 Allerdings wurde der pathophysiologische Zusammenhang dieser Erkrankungen und die das Metabolische Syndrom charakterisierende Insulinresistenz erst im Laufe des 20. Jahrhunderts deutlich.14
- Syndrome X
Gerald M. Reaven (1928–2018) wies in seiner „Banting Lecture“ 1988 darauf hin und beschrieb den Symptomenkomplex als das „Syndrome X“.15 Zu ihm gehören die
- Insulinresistenz,
- Hyperinsulinämie,
- Glukosestoffwechselstörung,
- Fettstoffwechselstörung
- und Hypertonie.
Erst viel später wurden weitere, pathophysiologisch relevante Aspekte wie die
- low-grade-inflammation beschrieben.16
Aktualität der beschriebenen Krankheitsprozesse
Interessanterweise thematisiert „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“17 durch die Abfolge der Kapitel VIII–X bereits die syndromale Entität dieses heute als Metabolisches Syndrom bekannten Krankheitsgeschehens und weist darüber hinaus eindrücklich auf den Diabetes mellitus als Folge-Erkrankung hin (Kap. VIII).
Auch die Erwähnung „parasitäre[r] Wärmeherde“18 im Kapitel X, im Zusammenhang mit dem Fettgewebe, bekommt unter dem Aspekt der inzwischen bekannten proinflammatorischen Wirksamkeit zahlreicher Adipokine eine geradezu überraschende Aktualität – ebenso wie der regulativ-systemische Ansatz zu Verständnis und Behandlung der Erkrankung. Auch wenn der Insulinmangel bei Diagnose und Therapie gegenwärtig immer noch im Vordergrund steht, so wurden doch inzwischen so viele unterschiedliche Beeinflussungen der Insulinresistenz bestimmter Gewebe und möglicher Gegenregulationsformen im Organismus bekannt, dass man auch hier vor einem äußerst komplexen Wechselursachenverhältnis multimodaler Einflussfaktoren steht.
Für diese Komplexität öffnen die fünf Pathologiekapitel die Augen und zeigen zudem klar auf, welche ganzheitlichen Regulationsprinzipien unter den vier Wesensgliedern jeweils unterstützt oder abgeschwächt werden müssen. Das anthroposophische Wesensglieder-Konzept bietet in diesem Kontext die Möglichkeit, die physische, ätherische, astralische und Ich-Organisation als die für die Gesamtregulation des menschlichen Organismus verantwortlichen Gesetzeszusammenhänge sehen zu lernen.19
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 202520
- Hierbei handelt es sich um Kapitel aus dem Grundlagenwerk von Rudolf Steiner und Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
- Vgl. Zeylmans van Emmichoven (2022), 67 f.
- Vgl. Wolfram (1991).
- Siehe www.anthromedics.org; [6.1.2025].
- Von lat. venerum: Gift, Medizin.
- Vgl. FN 1, S. 16.
- Siehe dazu die ergänzenden Hinweise im Stellenkommentar, Anm. zu EH, 82, S. 133–140.
- Paracelsus (2010), 232.
- Vgl. FN 1, Kap. I, Abs. 19.
- „Das Wahre war schon längst gefunden / Hat edle Geisterschaft verbunden / Das alte Wahre, fass’ es an.“ WA I/2, 82.
- Dem Internisten Matthias Girke und seiner Publikation „Innere Medizin“ verdanke ich fachliche Unterstützung bezüglich Referenzen und Hinweisen zu den Kapiteln VIII–XII, insbesondere zum Metabolischen Syndrom und seinen Folge-Erkrankungen. Siehe Girke (2020).
- Vgl. Balke und Nocito (2013), 77–83.
- Vgl. Hanefeld und Leonhardt (1996).
- Vgl. Reaven (1988), 1595–1607.
- Minihane u. a. (2015), 999–1012.
- Vgl. FN 1.
- Vgl. FN 1, S. 52f.
- Zum 250. Geburtsjahr Goethes 1999 wurde eine Vorlesungsreihe an der Universität Bern veranstaltet: Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften. In seiner Vorlesung zum Thema Typusidee und Genetik führte Johannes Wirz auch für die moderne Genetik aus: „Bereits regen einige Entwicklungsbiologen und Genetiker eine Neukonzeption der Gen-zentrierten Auffassung von Entwicklungsprozessen an. Duboule und Wilking schließen zum Beispiel, dass es keine Art/spezifischen Gene, sondern nur einen artspezifischen, differentiellen Gebrauch derselben gibt. […] Die kaum beachtete epigenetische Theorie von Waddington, welche die Vernetzung von Genen stärker betont als die Bedeutung einzelner Erbfaktoren, ist kürzlich durch eine viel beachtete Publikation von Strohmann wissenschaftsfähig geworden. [...] Der genetische Determinismus wird noch weiter relativiert, wenn, wie es die Tatsachen nahelegen, Lebewesen als organische Ganzheiten im Sinne Goethes verstanden werden. Das bedingt, dass ihnen neben DNA, Proteinen, Zellen und deren vielfältigen Interaktionen, die als Erscheinungsbedingungen vorhanden sein müssen, eine Qualität zugestanden wird, welche dieselben dirigiert. Die Idee der inneren Natur oder des Typus [gemäß Goethe, M. G.] fordert zudem ein erweitertes Verständnis von Vererbung.“ (Wirz [2000], 324 f.).
- In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

