Die menschliche Konstitution

Was unterscheidet den Menschen wesentlich von der Pflanzen- und Tierwelt?

Was ist der tiefere Grund für die defizitäre Ausgestaltung des Menschen im Vergleich mit Pflanze und Tier?

Welche Rolle spielt dabei die Ich-Organisation?

Der Mensch aus Sicht von Kapitel V

Nach der Betrachtung des pflanzlichen und des tierischen Organismus wird im fünften Kapitel von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“1 die menschliche Konstitution näher ins Auge gefasst. Dabei lassen sich drei Hauptabschnitte unterscheiden.

Die beiden ersten Absätze sind dem Vergleich der menschlichen und tierischen Gestaltbildung gewidmet.

Die Absätze 3–9 , insbesondere aber Absatz 5, beschreiben diese Gestaltbildung etwas genauer im Hinblick auf den darin zum Ausdruck kommenden dreifachen Substanzstrom.

Die Absätze 10–13 beziehen sich auf das unterschiedliche Verhalten der astralischen und Ich-Organisation im schlafenden und wachen Zustand, einschließlich der unterschiedlichen Rollen, die der Sauerstoff in diesen beiden Lebenszuständen spielt.

Ich-Organisation behindert natürliche Vervollkommnung

Dabei wird das für die Ich-Organisation charakteristische Merkmal zum zentralen Thema: dass die Ich-Organisation die Substanz- und Formkräfte im physischen, ätherischen und astralischen Bereich an der vollen Ausgestaltung der menschlichen Konstitution hindert. Die Tatsache dieser daraus resultierenden Unfertigkeit auf physischer, ätherischer und astraler Ebene unterscheidet den Menschen von Pflanzen und Tieren.

Denn diese erscheinen vollkommen ausgestaltet – jedes nach seiner Art. Dieser fundamentale Unterschied zwischen Mensch und Tier fiel bereits Platon auf. Er erkannte, dass der Mensch sich von den anderen Naturwesen dadurch unterscheidet, dass er defizitär, also unvollkommen ist.2

Determinationsdefizit als Garant für Freiheit

In der Renaissance wurde diese Einsicht nicht nur aufgegriffen, sondern geradezu zum Hauptmerkmal erhoben, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Denn man erkannte in dem konstitutionseigenen Determinationsdefizit der menschlichen Natur auch dessen Vorteil, das spezifisch menschliche Privileg: die Befähigung zur Selbstdetermination, zur Freiheit.

  • Giovanni Pico della Mirandola

So hat Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) in seinem berühmten Traktat „De hominis dignitate“ („Über die Würde des Menschen“) diesem Umstand ebenfalls positive Bedeutung zugemessen und sie nicht im Lichte der traditionellen christlich-biblischen Deutung als ‚Sünden-Fall‘ dargestellt. Pico lässt Gottvater als ‚obersten Künstler‘ sagen: „Weder haben wir dich himmlisch, noch irdisch, weder sterblich, noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es so beschließt.“3

  • Gotthold Ephraim Lessing

Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) schreibt am Ende seiner Ausführungen über „Das Christentum der Vernunft“ (1753): „Da in der Reihe der Wesen unmöglich ein Sprung stattfinden kann, so müssen auch solche Wesen existieren, welche sich ihrer Vollkommenheiten nicht deutlich genug bewusst sind.“4 In Lessings theologischer Grundüberzeugung ist Gott nicht nur der Inbegriff der allumfassenden Vollkommenheit, sondern er hat auch Bewusstsein davon. Wenn er nun Wesen zulässt – wie die Menschen es sind – die kein deutliches Bewusstsein ihrer Vollkommenheit haben, so sind diese Wesen offenbar noch im Prozess ihrer – Gott gewollten – Schöpfung bzw. Entwicklung.

Diese Einsicht inspirierte Lessing dann auch zu seinen bekannten Ausführungen über „Die Erziehung des Menschengeschlechts“, wo es heißt: „Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muss jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben. – [. . .] In einem und demselben Leben durchlaufen haben? Kann er in eben demselben Leben ein sinnlicher Jude und ein geistiger Christ gewesen sein? Kann er in eben demselben Leben beide überholet haben?“5Zum Schluss gipfelt diese Betrachtung dann in dem Bekenntnis zum Gedanken der Wiederverkörperung, dem er die Einsicht in seine eigene Entwicklungsbedürftigkeit und seine Sehnsucht nach Höherentwicklung verdankt: „Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, dass es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnet? […] Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“6

  • Novalis

Auch in der Philosophie des deutschen Idealismus und der Frühromantik, spielt der Tatbestand der Entwicklungsbedürftigkeit des Menschen aufgrund des Defizit-Erlebens eine entscheidende Rolle. So lässt Novalis (1772–1801) im zweiten Teil seines „Heinrich von Ofterdingen“ den Arzt Sylvester seinem Besucher Heinrich, der nach den Ursachen von allen Schrecken, Schmerzen, aller Not und allem Übel im Weltall fragt und wann man dessen nicht mehr bedürfe, die Antwort geben: „Wenn es nur Eine Kraft gibt – die Kraft des Gewissens – Wenn die Natur züchtig und sittlich geworden ist. Es gibt nur Eine Ursache des Übels – die allgemeine Schwäche, und diese Schwäche ist nichts, als geringe sittliche Empfänglichkeit, und Mangel an Reiz der Freiheit.

Heinrich: Macht mir doch die Natur des Gewissens begreiflich.

Sylvester: Wenn ich das könnte, so wär ich Gott, denn indem man das Gewissen begreift, entsteht es.“7

Verzicht auf naturgegebene Vollkommenheit zugunsten von Menschlichkeit

Die physiologisch bedingte Unvollkommenheit des Menschen und der damit verbundene seelisch-geistige, d. h. charakterliche Entwicklungs-Bedarf wird in Kapitel V darauf zurückgeführt, dass die menschliche Konstitution von Natur aus auf keiner Ebene ihrer Manifestation perfekt ausgestaltet ist. Die Gestaltungskräfte werden durch den Einfluss der Ich-Organisation zurückgedrängt, „im Flusse erhalten“ und, wo nötig, überwunden.8

  • Man kann dies einerseits als generellen Verzicht auf Spezialisierung ansehen und an Goethe denken, der der Ansicht war, dass das Tier durch seine Organe belehrt würde, indem sie sozusagen instinktsicher ‚alles richtig machen‘, der Mensch aber seine Organe belehren müsse.9

  • Man kann es aber auch als einen Akt aktiven, willentlichen Zurückdrängens der mineralischen, pflanzlichen und tierischen Natur ansehen, um die eigene Menschlichkeit entwickeln zu können.

In seiner Studie „Die Evolution des Menschen in Hinblick auf seine lange Jugendzeit“10 hat Friedrich Alexander Kipp (1908–1997) diesen Tatbestand eindrucksvoll belegt. Wolfgang Schad (1935–2022) hat der Evolution von Tier und Mensch von der fossilen Frühgeschichte bis in die Gegenwart sein Lebenswerk gewidmet.11 Sein Schüler und Nachfolger als Direktor des Instituts für Evolutionsbiologie der UW/H, Bernd Rosslenbroich, hat diese Forschungen in seiner Habilitationsschrift über die „Entwicklung der Autonomie im Kontext der Evolution der Arten bis hin zum Menschen“ zusammengefasst.12 Dieser inzwischen auch naturwissenschaftlich gut belegte Tatbestand kann deutlich machen, dass letztlich keinem Menschen die Entwicklungsarbeit an der eigenen ‚Menschwerdung‘ abgenommen werden kann.

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 202513

  1. Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
  2. Als Beispiel hierfür sei der Dialog Protagoras genannt. Siehe Platon (2016), 645–663.
  3. Della Mirandola (2022), 14.
  4. Lessing (1998), 27
  5. Lessing (2001), 98.
  6. Ebd., 99.
  7. Novalis (2013), 273.
  8. Vgl. FN 1, S. 28.
  9. „Das Thier wird durch seine Organe belehrt; der Mensch belehrt die seinigen und beherrscht sie.“ WA II, 42, 258.
  10. Kipp (1980).
  11. Schad (2012). Während sich der Schimpansenkopf kurz nach der Geburt in Aufbau und Vertikalität kaum von dem eines Menschenkindes unterscheidet, so ist dies im Laufe der kommenden Wochen und Monate zunehmend der Fall. Der Gesichtsschädel rückt nach vorne, die Stirne flacht sich nach hinten ab und die adulte Form hat das Menschenähnliche weitgehend verloren. Entsprechend ist es mit Armen, Händen, Beinen und Füßen. Auch sie sehen zunächst in der frühen Embryonalentwicklung menschenähnlich aus und weisen die gegliederte Zehen- und Fingerbildung auf. Besonders berührend ist dies im Verlauf der Entwicklung des Vogelflügels. Hier differenziert sich aus der zunächst fünffingerigen ›Hand‹ am Ende des Arms sukzessive das verkrüppelte ‚Fingerskelett‘ heraus, das sich zwar zur perfekten Navigation der Flügel eignet – aber eben nur dafür. Die Hand des Menschen bleibt hingegen lebenslang im Verzichtsmodus auf jede Form der Spezialisierung. Sie steht nicht im Dienst einer durch die Natur gegebenen Steuerung, sondern braucht die Impulsgebung zum ‚Handeln durch bewusstes Denken und Fühlen.
  12. Vgl. Rosslenbroich (2007) und Kümmell (2020).
  13. In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.