Das Prinzip der vertikalen Sukzession in der Anthroposophie
Was bedeutet vertikale Sukzession und was zeichnet sie gegenüber der horizontalen Sukzession aus?
Was bedeutete dieses Prinzip für die anthroposophische Bewegung nach Rudolf Steiners Tod?
Horizontale versus vertikale Sukzession
Es ist wichtig zu wissen, dass auch bezüglich der Sukzession ein großer Unterschied besteht zwischen den alten und neuen Mysterien.
In den alten Mysterien galt das Prinzip der „horizontalen Sukzession“ in Form von Handauflegen oder anderen Kontinuitätsritualen. Das findet sich auch noch innerhalb der katholischen Kirche bei den Weiheritualen der Priester, Bischöfe und der Päpste.
Für die neuen Mysterien gilt das Prinzip der „vertikalen Sukzession“, durch das jeder Mensch sich befähigen kann, selber in innerster Gewissensfreiheit den Anschluss an den Quellort der göttlichen Inspiration zu suchen.
Obwohl es keinen Nachfolger gab für Rudolf Steiner und obwohl Marie Steiner in ihrer Einleitung zur Erstherausgabe des gesamten Weihnachtstagungsgeschehens über das Scheitern der damaligen Mitglieder der Bewegung sprach,1 so erwies sich das Prinzip der vertikalen Sukzession als Brückenschlag in etwas Neues, das erlaubte, Rudolf Steiners Impulse weiterzuführen und immer tiefer zu ergreifen.
Aus der Resignation in die Begeisterung
Marie Steiner schreibt dazu an genannter Stelle: „Wir waren wohl berufen, aber nicht auserwählt. Wir sind dem Ruf nicht gewachsen gewesen. Die weitere Entwicklung hat es gezeigt. (…)
Die tiefste Esoterik könnte darin bestehen, bisher divergierende frühere geistige Strömungen in einigen ihrer Repräsentanten jetzt zum harmonischen Ausgleich zu bringen. Das wäre eine esoterische Aufgabe gewesen, die im Zusammenwirken mit Dr. Steiner durch seine überragende Einsicht, Kraft und Liebefähigkeit hätte gelöst werden können. Aber unser menschliches und Gesellschaftskarma entlud sich auf ihm. (…)
In diesem tragischen Lichte steht die Weihnachtstagung für den, der die Möglichkeit hat, die Geschehnisse zu überschauen. Von der Schwere und dem Leide dieses Geschehens haben wir nicht das Recht, unsere Gedanken abzuwenden. Denn aus dem Leide kommt die Erkenntnis – aus dem Schmerz wird sie geboren.“
Und dann fährt sie unmissverständlich und ohne jegliche Resignation fort: „Dieser Schmerz muss uns dazu führen, mit umso stärkerem Wollen unsere Aufgaben zu erfassen. (…)
Unsere Aufgabe ist es nun, anhand der Ansprachen und Vorträge Rudolf Steiners, die uns im Stenogramm erhalten sind, die Weihnachtstagung selbst sprechen zu lassen. (…)
Das Ganze der Verhandlungen ist für uns ein Schulungsweg in Dingen der Versammlungsführung und der Behandlung gesellschaftlicher Probleme. Aber getaucht ist dies alles in die Atmosphäre höchster Geistigkeit, dargebracht wie ein Bitt- und Dankopfer den höheren Mächten. Es herrscht das Bestreben vor, die Dinge dieser Welt praktisch und sinngemäß zu vollziehen, aber sie dem Willen einer weisen Weltenlenkung unterzuordnen. Das Alltägliche wird dadurch in die Sphäre der geistigen Zielsetzung und der höheren Notwendigkeit gehoben.“
Der sinnliche Alltagsmensch setzt sich Ziele für den Nachmittag, für den Abend, den Morgen. Der geistige Mensch vermag aus den geistigen Prinzipien heraus ferne Ziele sich zu setzen, die seinen Willen durchpulsen, seine Kräfte lebendig machen. So der Menschheit Ziele setzen, d. h. im wahren höchsten Sinn, im Sinn des ursprünglichen christlichen Prinzips, das Christentum esoterisch erfassen. So hat es derjenige verstanden, der das große Prinzip der Einweihung des Willens geschrieben hat, der die Apokalypse geschrieben hat. Man versteht die Apokalypse schlecht, wenn man sie nicht versteht als den Impulsgeber für die Zukunft, für das Handeln, für die Tat.“
Aus diesen Worten sprechen der Realismus und die Begeisterung im Hinblick auf die Möglichkeit der vertikalen Sukzession – keine Trauer über eine ununterbrochene und damit möglicherweise gescheiterte horizontale Sukzession.
Rudolf Steiner war durch sein eigenes Leben und Handeln eine Art Urbild für diesen Übergang der alten in die neuen Mysterienkulturen. Es war ihm ein tiefes Bedürfnis wo immer möglich anzuknüpfen an das bisher Gewordene, um dann in unmittelbarer Verantwortung vor der geistigen Welt im Hier und Jetzt den neuen spirituellen Einschlag zur Wirksamkeit zu bringen. Hella Wiesberger nannte dies in ihren Publikationen zum Werk Rudolf Steiners das Prinzip von Kontinuität und Wandel.
Persönliche Erfahrung als Sektionsleiterin
Als ich 1988 die Leitung der Medizinischen Sektion am Goetheanum übernahm, stand ich einerseits vor der Aufgabe, mich an das bisher gewordene anzuschließen, und mich andererseits zu fragen, welche Möglichkeiten sich für die Fortsetzung und Weiterentwicklung der Arbeit der Med. Sektion ergeben:
Was haben die vier LeiterInnen der Medizinischen Sektion – Ita Wegman, Margarethe Kirchner-Bockholt, Walter Holtzapfel und Friedrich Lorenz vor mir getan?
Und was kann ich jetzt als nächsten Schritt in der Fortsetzung der Arbeit unternehmen?
Ohne Anknüpfung an die Aufgabenstellung, die Rudolf Steiner auf der Weihnachtstagung der Medizinischen Sektion und ihrer Leiterin gegeben hat, nämlich das medizinische System der Anthroposophie auszuarbeiten, hätte ich gar nicht gewusst, was meine Leitungsaufgabe ist.
So aber war klar, dass es darum geht, wo und wie auch immer möglich, Menschen und Menschengruppen darin zu unterstützen, an der Substanzbildung der Anthroposophischen Medizin in all ihren Disziplinen zu arbeiten und die Ausbreitung der medizinischen Bewegung weltweit zu fördern.2
Meine Initiative für die Weiterarbeit entzündete sich an meinem Bemühen, mich mit dem geistigen Impuls der Aufgabe im Sinne der Qualität vertikaler Sukzession zu verbinden. Dadurch fühlte ich mich unmittelbar in meiner eigenen Handlungsbereitschaft angesprochen und empfand andererseits unmittelbar und zweifelsfrei die Tragekraft und Fruchtbarkeit des historisch Veranlagten.
Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen
- Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924, GA 260, S. 18.
- Michaela Glöckler, Rolf Heine Hg., Führungsfragen und Arbeitsformen in der anthroposophisch-medizinischen Bewegung, Dornach 2015.