Freie Hochschule für Geisteswissenschaft als Michael-Schule
Inwiefern ist die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft als Michael-Schule zu verstehen?
Wie hängt Michael mit dem Ur-Impuls der anthroposophischen Bewegung zusammen?
Michaels Sieg über den Drachen und seine Folgen
Rudolf Steiner schrieb auf seinem Krankenlager die sogenannten „Michael-Briefe“,1 die in der Wochenschrift des Goetheanum publiziert wurden.
Zu Beginn der fünften Kulturepoche verlor – so Rudolf Steiner – der Erzengel Michael, bis dahin Verwalter der kosmischen Intelligenz, die in der Apokalypse mit dem Drachen gleichgesetzt wird, mit seinem Sieg über diesen seine bisherige Aufgabe: die kosmische Intelligenz so zu verwalten, dass sich der Mensch durch sein Denken auch in seiner geistigen Natur, d.h. als geistiges Wesen, erleben konnte.
Seitdem diese ehemals kosmische Intelligenz ganz auf der Erde angekommen ist, steht sie nicht mehr unter der Führung der göttlichen Wesen, die die Menschheitsentwicklung begleiten, was sich im Aufkommen des Materialismus zeigt.
Spiritualisierung des Denkens als Ur-Impuls
Deshalb versammelt Michael seit dem 15. Jahrhundert in einer Schule im Vorgeburtlichen Menschen, um sie über das Geheimnis dieses intellektuellen Sündenfalls aufzuklären. Diejenigen, die diesen Impuls vorgeburtlich aufnehmen konnten, suchen dann auf der Erde nach Wegen, ihr Denken wieder zu spiritualisieren und sich zu befähigen, geistig Wesenhaftes unmittelbar im eigenen Denken zu erleben.
Dieses von Michael inspirierte Anliegen der Spiritualisierung des Denkens ist der Ur-Impuls der anthroposophischen Bewegung und der von Rudolf Steiner begründeten anthroposophischen Geisteswissenschaft. Mit der Neubegründung der Hochschule konnte sie als „Michael-Schule auf der Erde“ das soziale Gefäß werden, das durch die Arbeit der Sektionen die Spiritualisierung der verschiedenen Berufsfelder und Lebensgebiete in eine weite Zukunft hinein ermöglicht.
Kosmischer Kultus um 1800 und Goethes Märchen
Rudolf Steiner sprach auch noch von einem Zwischenschritt zwischen der Begründung der Michael-Schule in der geistigen Welt im 15. Jahrhundert und der Begründung der Michael-Schule auf der Erde im 20. Jahrhundert auf der Weihnachtstagung: einem kosmischen Kultus um 1800, am Anfang des 19. Jahrhunderts, unmittelbar vor Beginn der von Michael als Zeitgeist geleiteten Epoche, die 1879 begann und, so wie jede Erzengelführerschaft, etwa 340/50 Jahre dauern wird.
Goethe hat in seinem „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“ das Wesen dieses kosmischen Kultus imaginativ geschaut und in Worte gefasst. Sein Märchen macht im Bilde deutlich worum es geht. Die diesbezüglichen Kerngedanken werden von dem Alten mit der Lampe so formuliert: „Ein Einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt.“ Und gegen Ende sagt er: „Drei sind, die da herrschen auf Erden: die Weisheit, der Schein und die Gewalt.“ Da widerspricht ihm der Jüngling und sagt: „Du hast die vierte Kraft vergessen, die noch früher, allgemeiner, gewisser die Welt beherrscht, die Kraft der Liebe!“ Der Alte aber sagt dazu lächelnd: „Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet und das ist mehr.“
Auf der Weihnachtstagung begründete Michael-Schule
- 1. Klasse – Schwellenbewusstsein entwickeln
Die von Rudolf Steiner auf der Weihnachtstagung begründete Michael-Schule sollte drei Klassen haben.
- 2. Klasse – Bemühen um harmonisches Zusammenwirken
Elemente der zweiten Klasse kann man aus Rudolf Steiners Briefen an die Mitglieder entnehmen, in denen er nicht müde wurde, die Mitglieder zum harmonischen Zusammenwirken aufzurufen, indem sie sich füreinander interessieren, aneinander aufzuwachen und miteinander initiativ werden. Es war Steiner ein tiefes Anliegen, dass die Mitglieder die Anthroposophie in einer Weise vertreten, die von den Zeitgenossen auch verstanden werden konnte.
Man ahnt hier die Inspiration seitens des kosmischen Kultus. Wenn die Mitglieder diese Aufgabe ernstnehmen, „so kann im Arbeiten der tätig sein wollenden Mitglieder die Anthroposophische Gesellschaft zu einer echten Vorschule der Eingeweihten-Schule werden. Auf dieses wollte die Weihnachtstagung kräftig hinweisen; und wer diese Tagung richtig versteht, wird mit diesem Hinweisen fortfahren, bis ein genügendes Verständnis dafür der Gesellschaft wieder neue Aufgaben bringen kann.“2
- 3. Klasse – Dienst an der Menschheitsentwicklung
Elemente der dritten Klasse lassen sich in den „Michael-Briefen“ finden.3 Manches darin ist so formuliert, dass es aus einem Michael-Kultus stammen könnte, in dem sich eine Gemeinschaft von Menschen dem Dienst an der Menschheitsentwicklung weiht. Dass dies das zentrale Anliegen der Weihnachtstagung war, wird auch in der Ansprache deutlich, die Rudolf Steiner am 28. September 1924 für die Mitglieder hielt,4 bevor er sich endgültig auf das Krankenlager zurückziehen musste. Diese Ausführungen münden in einer Michael-Imagination, in der die Quintessenz der anthroposophischen Bewegung und der Menschengemeinschaft, die sich ihr auf der Erde widmen will, zusammengefasst ist.
Die finale handschriftliche Fassung dieser Imagination entstand kurz vor Rudolf Steiners Tod im Zusammenhang mit den von ihm entworfenen Formen für eine eurythmische Darstellung des Spruches. Am 12. April 1925, dem Ostersonntag nach Rudolf Steiners Tod, kam sie erstmals eurythmisch in der Goetheanum-Schreinerei zur Aufführung.
Michael-Imagination
Sonnenmächten Entsprossene,
Leuchtende, Welten begnadende
Geistesmächte; zu Michaels Strahlenkleid
Seid ihr vorbestimmt vom Götterdenken.
Er, der Christusbote, weist in euch
Menschentragenden, heil`gen Welten-Willen;
Ihr, die hellen Ätherwelten-Wesen,
Trägt das Christuswort zum Menschen.
So erscheint der Christuskünder
Den erharrenden, durstenden Seelen;
Ihnen strahlet euer Leuchte-Wort
In des Geistesmenschen Weltenzeit.
Ihr, der Geist-Erkenntnis Schüler,
Nehmet Michaels weises Winken,
Nehmt des Welten-Willens Liebe-Wort
In der Seelen Höhenziele wirksam auf.
Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen
- Rudolf Steiner, Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie. Das Michael-Mysterium, GA 26.
- Rudolf Steiner, Mitglieder-Brief vom 13. Juli 2024, GA 26.
- Siehe FN 1
- Rudolf Steiner, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge. Vierter Band. Das geistige Leben der Gegenwart im Zusammenhang mit der anthroposophischen Bewegung, GA 238.