Rudolf Steiners Lebensthema
Was war Rudolf Steiners zentrales Lebensthema?
Welche Fragen waren für ihn wegweisend?
Welchen Leitmotiven folgte sein Lebensweg?
Die Frage nach der menschheitlichen Heimat
In „Heinrich von Ofterdingen“ lässt Novalis Heinrich Mathilde die Frage stellen: „Wo gehen wir hin?“ Mathilde antwortet: „Immer nach Haus“ . Dieses Thema des Wohin kommt auch in dem Gedicht „Weißt du, wo die Heimat ist?“ von Albert Steffen zum Ausdruck. Es geht immer um die Fragen:
Wo kommen wir her?
Wo ist unsere Heimat?
Und wo gehen wir hin, wo ist unser aller Zuhause?
Gibt es ein allgemein-menschliches Zuhause, das uns mit vielen Orten und vielen Menschen verbindet?
Auf diese Fragen hat Rudolf Steiner geantwortet, indem er selbst einen sehr einsamen Weg beschritt. Sein Lebenswerk kreist im Grunde nur um ein einziges Thema: Um das Bemühen, die wahre Heimat zu schauen und eine Sprache zu finden, um mit denen, die sich dafür interessieren, sprechen zu können. Diesen Weg beschreibt er selbst in „Mein Lebensgang“.1
Heute wird viel von Authentizität gesprochen. Man findet diesen Begriff bei Rudolf Steiner auf Schritt und Tritt. Er erlegte sich die Verpflichtung auf, über nichts zu schreiben, hinter dem er nicht zu 100 % stehen konnte. Zum Beispiel schrieb er mit vierzig „Das Christentum als mystische Tatsache"2 und publizierte das Werk mit einundvierzig. Als es erschien, sagte er, dass er es auch schon mit dreißig hätte schreiben können, weil er damals schon dieselben Gedanken gehabt hätte. Er hätte die zehn Jahre aber gebraucht, um das Gedachte persönlich zu durchleben. Zehn Jahre Authentizitätstraining, bevor er es wagte, seine Gedanken auszusprechen und zu veröffentlichen.
Eine Brücke und ein Weg für alle
Ihm ging es darum, eine Brücke zu bauen, über die jeder gehen kann. Das Bild der Brücke verwendet auch Goethe in seinem Märchen: Diese Brücke konnte sogar mit Wagen befahren werden. Das ist wiederum ein Bild dafür, dass man auch Menschen mitnehmen kann, die nicht selbst laufen wollen oder können: Man packt sie einfach in den Wagen, überquert die Brücke und nimmt sie bis zum Tempel mit. Das ist ein zutiefst christlicher Ansatz: „Die Letzten werden die Ersten sein.“3 Sie kommen am Ende sogar in tollen Autos über die Brücke! Und die wenigen, die die Brücke erbaut haben, machen das Schlusslicht. Hauptsache, es sind alle drüben. Denn der Sinn des Brückenbaus war ja, dass alle hinüberkommen.
Goethe hat in seiner Lebensmitte ein Einweihungsgedicht geschrieben mit dem Titel „Zueignung"4. Er schildert dort gleichnishaft, was er bei einem Morgenspaziergang erlebte:
„Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte
Den leichten Schlaf, der mich gelind umfing,
Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte
Den Berg hinauf mit frischer Seele ging:
Ich freute mich bei einem jeden Schritte
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing;
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken,
Und alles war erquickt, mich zu erquicken.“
Mit Hütte ist der Leib gemeint, aus dem er wie ausstieg und sich auf den Weg ins Geistige machte. Dabei begegnete er der Wahrheit, mit der er ein Gespräch begann.
„Da schwebte, mit den Wolken hergetragen,
Ein göttlich Weib vor meinen Augen hin,
Kein schöner Bild sah ich in meinem Leben,
Sie sah mich an und blieb verweilend schweben. „
Er sagte anklagend zu ihr:
„ Ach, da ich irrte, hatt’ ich viel Gespielen!
Da ich dich kenne, bin ich fast allein!
Ich muß mein Glück nur mit mir selbst genießen,
Dein holdes Licht verdecken und verschließen.“
Daraufhin liest ihm die Wahrheit die Leviten und sagt:
„Sie lächelte, sie sprach: Du siehst, wie klug,
Wie nötig war’s, euch wenig zu enthüllen!
Kaum bist du sicher vor dem gröbsten Trug,
Kaum bist du Herr vom ersten Kinderwillen,
So glaubst du dich schon Übermensch genug,
Versäumst, die Pflicht des Mannes zu erfüllen!
Wie viel bist du von andern unterschieden?
Erkenne dich, leb’ mit der Welt in Frieden!
Dem entgegnet er:
„Verzeih’ mir, rief ich aus, ich meint’ es gut;
Soll ich umsonst die Augen offen haben?
Ein froher Wille lebt in meinem Blut,
Ich kenne ganz den Wert von deinen Gaben!
Für andre wächst in mir das edle Gut;
Ich kann und will das Pfund nicht mehr vergraben!“
Dann kommt der entscheidende Satz:
„Warum sucht‘ ich den Weg so sehnsuchtsvoll,
Wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?“
Das ist der entscheidende Satz – und genau das war Rudolf Steiners Lebensthema. Er hatte zwar einmal eine Krise und fragte sich – „Muss ich verstummen?“ –, weil das, was in ihm lebte, nirgendwo ein Echo fand. Er war von sich aus aber immer bereit, wenn er gefragt wurde, darüber zu sprechen.
Drei Etappen des einsamen Weges
Es gab drei Etappen auf seinem einsamen Weg, die jeweils ein Leitmotiv aufwiesen:
- Das Denken für Geistiges durchlässig machen
In dieser ersten Phase ging es Rudolf Steiner darum, sein Denken als Philosophisch und Individuum so zu schulen, dass es durchlässig würde für die geistige Realität – mehr noch: dass es zu einer Anschauungsform des Geistes würde.
- Im Tun Götter- und Menschenschaffen verbinden
In der nächsten Phase bemühte er sich darum, so zu arbeiten, dass sich bei all seinem Tun Götter- und Menschenschaffen verbanden. Das erstreckte sich auf alles, was Steiner im Großen „anpackte“ wie auch auf jeden noch so feinen künstlerischen Prozess. Denn auch hier ging es ihm immer darum, sich mit etwas Wesentlichem, Sinnhaftem verbunden zu fühlen; zu wissen, wofür er lebte, woran er arbeitete, was er durch sein Tun gestaltete.
- Die berufliche Arbeit aus dem anthroposophischen Geist heraus neu ergreifen
In dieser dritten Phase ging es ihm darum, sein Lebenswerk so durchlässig zu machen, dass die berufliche Arbeit in den unterschiedlichen Lebensfeldern aus dem anthroposophischen Geist heraus neu ergriffen werden konnte. Zum Beispiel hätte Rudolf Steiner schon damals am liebsten eine Bank gegründet. Leider hat ihn niemand dazu eingeladen…
Doch kam es zu diversen Gründungen in anderen Lebensbereichen, wie zur Gründung der Waldorfschule, der Anthroposophischen Medizin, der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ und anderes mehr. Dabei ging es immer um die Frage:
Wie sieht das berufliche Alltagsleben aus, wenn es Gottesdienst wird, wenn es durchlässig wird für Menschen- und Götterschaffen?
Drei Bedingungen der Hochschule an Bewerber
Die „Freie Hochschule für Geisteswissenschaft“ sollte den oben genannten drei Leitmotiven dienen. Diese spiegeln sich in den drei Bedingungen, die man als Bewerber sich selbst gegenüber erfüllen muss:
- 1. Bedingung – Bereitschaft, das eigene Denken zu schulen
Hier geht es schlicht um die Bereitschaft, das eigene Denken auf authentische Art und Weise zu schulen. Es wird nicht gefordert, dass einem das gelungen sein muss, bevor man Mitglied in der Hochschule werden kann, sondern es wird ganz klar gefordert, dass man den individuellen anthroposophischen Gedankenweg einschlagen möchte.
Mit anthroposophisch meine ich, dass der Mensch, der „Anthropos“, den Weg selbst aus innerer Freiheit wählt und geht. Zum anthroposophischen Weg gehört, dass keine Autorität diesen Weg für uns vorzeichnet, sondern dass wir ihn selbst gehen. Und wenn wir eine Autorität befragen, sollen wir ihr nicht blind folgen, sondern uns selbst fragen, und ob und warum wir einen Rat umsetzen wollen. Und schließlich sollen wir nach einer Zeit auch selbst beurteilen, ob uns das Befolgen des Rates gutgetan hat, ob es für uns richtig war. All das dürfen wir nicht delegieren, sondern müssen uns selbst damit mandatieren.
- 2. Bedingung – Bereitschaft, den Zusammenhang mit anderen zu halten
Hier geht es um die Bereitschaft, sich mit anderen Individuen, die sich ebenfalls auf dem Weg befinden, im Zusammenhang zu halten, sich als gemeinsam miteinander und mit den Göttern Schaffende zu begreifen.
- 3. Bedingung – Bereitschaft, den anthroposophischen Geist zu repräsentieren
Hier geht es darum, dass wir zu dem, was wir versuchen, auch stehen, dass wir das, worüber wir uns mit anderen verständigen, auch im Leben umsetzen, dass wir es nicht verleugnen. Rudolf Steiner formuliert so: „Repräsentant sein bedeutet, die Anthroposophie in allen Einzelheiten des Lebens umzusetzen, zu TUN“. Das kann man natürlich nur anstreben.
Diese drei Bedingungen erfordern Willensentschlüsse, sie zielen nicht auf die Evaluation von Ergebnissen ab. Deshalb wird gefragt:
Was willst Du?
Willst Du diesen Weg gehen?
Willst Du dich mit anderen darüber verständigen?
Und willst Du auch, dass das Leben, das du führst, Zeugnis davon ab belegt, dass du diesen Weg gehst?
Wenn man diese drei Dinge wirklich will, bekommt man in der Hochschule eine enorme Hilfe.
Vgl. „Offenes Gespräch über die Hochschule“ an der JK der Med. Sekt., Dornach 2009
- Rudolf Steiner, Mein Lebensgang, GA 28.
- Rudolf Steiner, Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, GA 8, Dornach 1989.
- Neues Testament, Matthäus 19, 21.
- J.W. Goethe, Werke, Kommentare und Register, Band 1, Hamburger Ausgabe, 11. Aufl. 1978.