Angst im Kleide der Depression bei Jugendlichen
Wie hängen Angst und Depression zusammen?
Wie äußert sich Depression im Jugendalter?
Warum gibt es während der Pubertät so viele Suizide?
Welche therapeutischen Maßnahmen gibt es, was hilft
Depression aufgrund von Perspektivlosigkeit
Eine der Hauptursachen für Depression ist, dass der Betreffende keinen Neuanfang sieht, dass er sich am Ende fühlt und fürchten muss, dass es immer so weitergeht.
Genauso empfindet ein junger Mensch am Beginn des 3. Jahrsiebtes. Viele Jugendliche haben das Gefühl, dass sie es nie schaffen werden, gute, normale, tüchtige Menschen zu werden, die ein sinnvolles Leben führen, weil sie es sich entweder nicht zutrauen oder weil sie nicht die Geduld haben, noch so viele Jahre darauf zu warten und die Schule einfach weiterzumachen. Deshalb tritt mit der Pubertät oft auch echte Schulmüdigkeit auf. Es findet im Grunde ein Umschwung statt, bei dem Ende und Anfang sehr eng miteinander verbunden sind. Und beides macht Angst: am Ende zu sein, aber auch: am Anfang zu stehen.
Deswegen ist die Pubertät natürlicherweise eine Zeit, in der Zukunftsängste, allgemeine Ängste, neue Ängste (wenn Kinder mutig waren, werden sie jetzt ängstlich), neue Körperängste, bei Frauen z.B. Vergewaltigungsängste, Angst davor, nachts alleine unterwegs zu sein usw., aber auch ganz diffuse Angstproblematiken auftauchen.
Angst vor destruktivem Potential
Im 3. Jahrsiebt erwacht ja auch das. Mit der Pubertät wird man in die Abgründigkeit entlassen, man entwickelt ein Bewusstsein für den Abgrund. Dieser wird einem zunehmend bewusst durch bestimmte Erlebnisse mit Kameraden, durch Dinge, die man sieht und erfährt, z.B. durch einen Selbstmord in der Klasse oder in der Schicksals- oder Schulgemeinschaft. Jetzt erlebt der Jugendliche zum ersten Mal auch Angst vor sich selbst, weil ihm dämmert, wozu er in der Lage ist. Er erkennt das unglaublich destruktive Potential des Menschen und fragt sich, wie man damit zurechtkommt – das macht Angst!
Erst jetzt, wo der Astralleib mit der Pubertät in der Lage ist, sich nachts vom physischen Leib zu trennen, weil er leibfrei geworden ist für das Fühlen, beginnt seine nächtliche Mitarbeit an seinem zukünftigen Karma. Denn wir alle beeinflussen unser Karma Nacht für Nacht und gestalten es auf diese Weise mit. Das wiederum hat zu tun mit der Art, wie wir Tag für Tag leben. D.h. durch die Art und Weise, wie wir tagsüber leben, bauen wir an unserer zukünftigen Natur.
Dieser Meilenstein der Entwicklung markiert die Schwelle, an der die geistige Nabelschnur durchgeschnitten wird. Man hat zwar ein gewisses Ausmaß an Selbstbewusstsein errungen, ist aber total auf sich selbst zurückgeworfen. Man weiß noch nicht, ob man das aushält und damit zurechtkommt. Man fühlt bereits mit sechzehn, dass man selbstverantwortlich sein sollte, ist dem aber überhaupt nicht gewachsen. Deswegen erlebt man, dass man den Weg zu sich selbst finden muss. Die Tatsache, dass „die zur Wahrheit wandern, allein wandern“,1 gemäß dem Gedicht von Christian Morgenstern, wird erstmals erlebt. Jugendliche mögen solche Gedichte, fühlen ihren Wahrheitsgehalt, aber sie erleben auch sehr stark den Abgrund des Bösen, des eigenen Egoismus.
Suizide im Jugendalter
Hier gibt es eine riesige Dunkelziffer. Auch liegt in dieser Phase eine große Suizidgefahr vor. Der versuchte Suizid aufgrund von Depression liegt zwischen 10 – 15%. Nach dem statistischen Bundesamt in Deutschland 2012 ist Suizid nach Unfällen jedoch die zweithäufigste Todesursache im Kindes- und Jugendalter, Tendenz steigend.
Das ist sehr erschütternd, denn für den Jugendsuizid ist noch das Umfeld verantwortlich, wenn man davon ausgeht, dass erst mit der Pubertät das persönliche Schicksal beginnt. Die Zeit bis zur Pubertät steht noch ganz im Zeichen vergangenen Schicksals, aus dem heraus man sich die Wesensglieder und den Körper gebildet hat. Das geschieht noch ganz unter der Führung dessen, was aus dem Vorgeburtlichen veranlagt ist.
Suizide beginnen oft schon mit dem Rubikon (mit ca. 9 Jahren) und kulminieren mit siebzehn, wenn die Abnabelung sich vollzogen hat. Analysiert man Suizide, entdeckt man meist schwere Schäden aufgrund der ganzen Art, wie die Entwicklung begleitet wurde: Der Jugendliche hat dadurch das Gefühl gehabt, dass mit ihm nichts mehr anzufangen ist und machte deshalb Schluss.
Diverse Symptome als Zeichen für Angst erkennen
Jugendliche haben oft auch Angst zu sagen, dass sie Angst haben (vgl. Angst: Angst im 3. Jahrsiebt – wovor Jugendliche Angst haben). Deswegen sollten bei Untersuchungen Symptome wie Atemnot, Beklemmungen, Druckgefühle, Schwindel, Parästhesien, „weiche Knie“, Herzklopfen, Zittern, bestimmte Formen von Tics, abdominelle Beschwerden gut hinterfragt werden. Denn sie führen sehr häufig zum Arzt, sind aber im Grunde Ausdruck von Jugendangst, die sich auf den Magen oder die Verdauung schlägt. Dazu können auch Kopfschmerzen und Schlafstörungen zählen, die normalerweise nicht auftreten in dem Alter. Wir können immer davon ausgehen, dass sich eine Angststörung dahinter verbirgt.
Die Regel ist deshalb: Wenn ein Jugendlicher mit solchen Beschwerden kommt, ist das viel ernster zu nehmen, als bei Erwachsenen. Denn die Symptome sind nur eine Aufforderung, genau hinzuschauen – sie sind ein Hilferuf. Über die anamnestischen Fragen kann man sich vorsichtig herantasten an ein Gespräch, in dem sich der Jugendliche öffnen kann. Als Arzt hat man schöne Möglichkeiten – man darf ja fragen. Wenn man merkt, dass er noch ganz verschlossen ist, kann man ihm ein Medikament geben und ihm in der Woche darauf einen weiteren Termin geben, um zu sehen, ob es schon besser wird oder noch mehr getan werden muss. Man muss ihn in engen Intervallen wieder kommen lassen. Ist der Termin zu weit weg, sieht man den Betreffenden vielleicht nie wieder…
Als Vollzeit-Schularzt kann man den Schüler in der Zwischenzeit in der Schule im Vorbeigehen auch sehen und auf den Termin verweisen. Dann hat er die moralische Verpflichtung zu kommen. Sobald es ihm wieder besser geht und er etwas lockerer geworden ist, traut er sich eher über seine Ängste zu sprechen.
Beispiel aus der eigenen Schularzt-Praxis
Ich erinnere mich an einen Fall, in dem der Alkoholismus des Vaters das Problem war. Der Sohn hatte große Angst, auch so zu werden wie sein Vater. Er war unglaublich erleichtert, als ich ihm sagte, dass er ganz anders als sein Vater wäre, dass ihm das nicht passieren könnte. Ich stärkte sein Selbstvertrauen, indem ich betonte, dass keiner Alkoholiker werden muss. Ich brachte ihm seine Andersartigkeit und seine Vorzüge zu Bewusstsein. Allerdings führte ich auch mit der Mutter, einer typischen Co-Abhängigen, ein langes Gespräch: Sie sorgte dafür, dass die Kinder in die Waldorfschule kamen, sie managte alles – der trinkende Vater wurde immer schwächer und sie immer stärker. Ihr Thema war es, sich zu fragen, was es bedeutet, Ehefrau eines Alkoholikers zu sein: wie sie sich verhalten könnte, dass er weniger trinkt anstatt umgekehrt.
Das ist ein Beispiel für Angst, das häufiger vorkommt, als man denkt. Der Jugendliche quälte sich mit der Frage: Muss ich auch so werden wie jemand, den ich bisher schätzte und von dem ich merke, dass er jetzt abstürzt? Das löst massive Ängste aus. Oft sind auch Trennungsproblematiken der Eltern Auslöser für große Angst.Was betroffenen Jugendlichen hilft
Bei der Depression im Jugendalter, hinter der sich Angst verbirgt, ist das Lenken des Gefühlslebens in eine objektive Richtung das Entscheidende.
- Eigenaktivität und Mut
Einem Jugendlichen hilft es angesichts von Angst, aktiv zu werden, Mut zu zeigen. Ein gesunder Jugendlicher versucht zu beruhigen, wenn er merkt, dass die Erwachsenen Angst haben, obwohl er eigentlich auch Angst hat: „Mama, sei doch nicht so ängstlich! Du wirst schon sehen, mir geschieht nichts!“
- Den Jugendlichen frei lassen
Wichtig ist, dass die Jugendlichen spüren, dass der Erwachsene etwas riskiert und sie gehen lässt. Im Moment der Trennung, wenn sie selbst verängstigt sind, sind sie besonders offen für einen Rat oder eine Regel, die man noch mit auf den Weg geben kann. Darüber hinaus muss der Erwachsene sich seinerseits bemühen, die Angst, dass dem Jugendlichen etwas passieren könnte, zu überwinden. Diese Überwindung wirkt enorm bestärkend auf den Jugendlichen, sodass er selbst mutig den neuen Freiraum ergreifen und versuchen kann, die eigenen Ängste zu überwinden.
- Eigene Erfahrung und Einsicht
Im 3. Jahrsiebt geschieht Entängstigung durch eigene Erfahrung und durch Einsicht bzw. durch gute Erklärungen – indem man versteht, wo Gefahren auftreten können und man sie ausräumt und/oder sich schützt.
- Weltverstehen
Das Motiv für dieses Jahrsiebt lautet: „Die Welt ist wahr“1 (vgl. Entwicklung: Entwicklung und Lernen ). Jetzt wird im Unterricht am Verständnis der Welt gearbeitet. Die geistige Isolation wird überwunden durch Weltverstehen. „Wir lernen, um die Welt zu verstehen.“2 Das hören die Kinder schon in der Kinderhandlung. „Wir lernen, um in der Welt zu arbeiten. Die Liebe der Menschen zueinander belebt alle Menschenarbeit.“ So geht es in der Oberstufe immer um das Lernen, Arbeiten und Verstehen – auf liebevolle Art: indem man sich gegenseitig hilft, erklärt, unterstützt. Das bewirkt geistige Entängstigung.
Fazit
Die therapeutische Geste ist immer: Weg von der eigenen Befindlichkeit – hin zur Welt. Zusätzliche Instrumente sind
- die heutigen Therapien
- Elterntraining: Das ist heute von immenser Bedeutung. Denn sehr oft schürt oder verstärkt das Elternhaus die Ängste des Betroffenen.
Vgl. Vortrag „Trauma als Schwellenerfahrung“, Dornach 2011
- Christian Morgenstern aus: Wir fanden einen Pfad. Werke und Briefe. Stuttgarter Ausgabe Band II, Stuttgart 1992, S. 207.
- Die Motive der Waldorfpädagogik für die ersten drei Jahrsiebte lauten: „Die Welt ist gut, die Welt ist schön, die Welt ist wahr“.
- In: Rudolf Steiner, Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts. GA 269.