Die Krise als Chance das wahre Selbst zu finden
Inwiefern ist Selbstbezogenheit in jungem Alter notwendig?
Warum ist man mit zunehmendem Alter für Selbstlosigkeit disponiert?
Welche Rolle spielt Selbstlosigkeit beim Finden des wahren Selbst?
Natürliche Selbstbezogenheit von Kindern
Im ersten Lebensdrittel bauen wir Menschen unseren Leib erst auf. Wir „verselbsten“ uns. Das ist die Zeit des berechtigten Egoismus, die Zeit der Verleiblichung oder des „Embodyment“. Der Leib muss reifen. Dazu gehört das Motto: Mein Leib, meine Seele, meine Interessen, mein Spielzeug, meine Puppe, meine Mama. Mein, mein, mein. Es ist völlig normal, dass Dreijährige Narzissten sind und Neunjährige alles persönlich nehmen. Das ist in diesem Alter vollkommen normal. Und: Das Erwachen in den eigenen Seelenkräften gelingt nicht ohne diesen Selbstbezug. Die Kleinen müssen sich alles selber aneignen, müssen selber üben.
Aber wir Erwachsenen sollten die moralischen Fähigkeiten, die wir bei den Kindern hervorrufen wollen, im Sinne eines Vorbildes vorleben. Wir machen es jedoch oft umgekehrt: Wir benehmen uns „unmöglich“ und predigen Moral. Das ist in gewisser Weise schizoid. Dass aus den Kindern trotzdem „etwas wird“, liegt daran, dass sie bereits Vieles mitbringen…
Wie oft habe ich in meiner Praxis als Kinderärztin gelitten, weil Eltern selbst in der Gegenwart vom Kinderarzt von ihren Kindern verlangten: „Mach das so! Tu das so!“ Mir taten diese Kinder leid. Aber ich durfte nicht eingreifen, durfte nicht sagen, dass sie die Kinder einfach machen lassen sollten.
Die Freiheit von sich selbst als Initiationsmoment
Später, ob mit 23 oder mit 45 Jahren, ob durch eine große Lebenskrise wie den Verlust der Arbeitsstelle, Partnerverlust, Krankheit, Unfall oder was auch immer, wendet sich das Blatt. Alles, was dem eigenen Egoismus gedient hat, ist plötzlich nicht mehr da. Oder es trägt nicht mehr. Man ist wie im Nichts gelandet. Jetzt stellt man sich die Frage:
Was bleibt übrig, wenn ich nichts mehr mein Eigen nenne?
Wenn ich ganz selbstlos geworden bin, weil mir alles weggebrochen ist?
Man geht wie durch ein Nadelöhr, um da wieder herauszukommen – das kann eine extrem bittere Erfahrung sein. Aber genau das ist die einzige Chance, überhaupt erfahren zu können, was Freiheit ist. In diesem Krisenmoment sind Selbstlosigkeit und Freiheit (von sich selbst) dasselbe. Man spürt noch sein Selbst, aber man musste oder hat bewusst alles losgelassen, was einem teuer war.
Das wahre Selbst im Nichts implementieren
Fakt ist: Erst in der Freiheit dieses Momentes umfassender Selbstlosigkeit kann man sein wahres Selbst implementieren (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit). Denn dieses Selbst hat nichts mit dem physisch Gewordenen, oder dem Lebensumkreis zu tun, also mit den irdischen Gegebenheiten, sondern es hat mit dem Ewigen zu tun: Die Seelenkräfte und die Ich-Organisation können jetzt zu einer Schale werden, in die das höhere Selbst hereinleuchten und als Gedanke, als Ideal aufgenommen werden kann: das Ideal der Wahrheit, der Liebe, der Echtheit – welche Worte wir auch immer für das Göttliche finden. Diese Ideale wahrer Menschlichkeit können und müssen wir uns sozusagen „spirituell einverleiben“, so werden sie zu einem lebendigen Abglanz unseres wahren Selbst (vgl. Ideale: Idealismus als spirituelle Geburt).
Dadurch entsteht selbstlose Wärme, selbstloses Interesse. Plötzlich hat jede noch so kleine Kleinigkeit des Lebens und des Alltags einen Wert. Darin sind die Buddhisten ganz groß, weil sie den einzelnen kleinen Stein wertschätzen als Teil der Schöpfung. Weil sie es von oben her betrachten und den Kiesel nicht mehr nur mit dem Fuß wegkicken. Es geht um diese Ich-Erfahrung im Kontext des Göttlichen. Aber um sie machen zu können, muss der Mensch durch dieses Nadelöhr gehen.
Das kann natürlich auch in Form einer Schulung geschehen, wodurch sich diese Qualitäten langsam entwickeln, wie wir das alle mehr oder weniger unseren Vorstellungen gemäß versuchen (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Der individuelle Schulungsweg). Meistens möchte man da immer viel mehr erreichen, als einem möglich ist. Das ist ein Weg der Verwandlung, bei dem, wie es Steiner ausdrückt, „das Ich langsam in sich selbst für das Wesentliche erwacht“ Dadurch lernt das Ich, „Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden“.1
Vgl. Vortrag an der Schulärztetagung 2012
- Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.