Persönliche Krise und ihre Überwindung

Was ist der Sinn persönlicher Krisen?

Wozu fordern sie uns heraus?

Was macht sie so elementar wichtig?

Wie können wir sie überwinden?

Am Nullpunkt angelangt

Jeder Mensch gelangt mindestens einmal im Leben an den Punkt, an dem er sein ganzes bisheriges Leben in Frage stellt. Man hat plötzlich Zweifel an dem was man tut und bisher getan und gedacht hat und weiß nicht, woher diese kommen. Man fängt quasi an, sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen und gerät so immer tiefer in eine persönliche Krise. Je nach Temperament, geht man anders damit um:

  • Der Melancholiker sagt: „Ich sitze in einem Loch“.
  • Der Sanguiniker sagt: „Ich hänge in der Luft“.
  • Der Phlegmatiker sagt: „Ich bin am Schwimmen“.
  • Der Choleriker könnte vor Wut platzen, dass er in diese Situation gekommen ist.

„Die Philosophie der Freiheit“1 sinngemäß ausdrückt: „Ein freies Wesen kann der Mensch nur selbst aus sich machen“.

Notwendigkeit einer zweiten Geburt bzw. Initiation

Diese Krise kulminiert in einem ganz individuellen Initiationsmoment. Denn der Schmerz gehört zu einem „Nadelöhr-Erlebnis“, zu der Erfahrung, durch den Nullpunkt gehen zu müssen. In der religiösen Literatur spricht man diesbezüglich von der zweiten Geburt, in der esoterischen Literatur von Initiation (vgl. Biographiearbeit: Die zweite Geburt in der Biografie).

Warum zweite Geburt?

Warum Initiation?

Weil man spürt: „Ich muss mich selbst noch einmal neu gebären. Es reicht nicht, dass ich mich für ein paar Monate zurückziehe, ich muss mich verwandeln, muss neu werden“. Man kann diesen Prozess des Neu-Werdens mit den sieben „Ich bin“-Worten aus dem Johannes-Evangelium begleiten (vgl. Krise als Chance: Krisen sind Aufgaben). Zudem sind in den Evangelien auch weitere Schulungselemente ganz wunderbarer Art im Hinblick auf diese zweite Geburt zu finden, aber das setzt einen tiefen religiösen Zugang voraus, den nicht jeder hat.

Ich nahm damals noch zusätzlich das Initiationsbuch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“2 zu Hilfe. Doch konnten mir weder das Buch noch die Evangelien in der Stunde der Dunkelheit helfen. Sie gaben mir zwar sehr gute Erklärungen, was mit mir geschah – durch das Nadelöhr musste ich jedoch selber hindurch.

Sich aus Wasser und Geist neu gebären

Doch wie macht man das konkret?

Um beim Bilde der zweiten Geburt zu bleiben: Man gebiert sich selbst nochmal neu. Im Evangelium heißt es: „aus Wasser und Geist geboren“3, d.h. rein gedanklich. Wasser ist der Träger des Ätherischen, der Lebenskräfte. Leben ist an Wasser gebunden. Aus der anthroposophischen Menschenkunde wissen wir zudem, dass wir mit denselben Kräften denken, denen wir unser Leben verdanken – sobald sie leibfrei geworden sind.4 Das ist ein wunderbares Thema für sich.

„Aus Wasser und Geist“ bedeutet demnach: Man muss sich durch den geistigen Prozess des Denkens selbst vornehmen, wer oder was man als Mensch werden möchte. Man muss im Bodenlosen der Krise eine neue selbstbestimmte Wertsetzung vornehmen. Ich muss sagen, wer oder was ich bin und sein will. Wenn ich mir vornehme in Zukunft taktvoll und höflich zu sein, werden nach einer Weile Menschen kommen und sagen z.B.: „Du bist aber ein guter Zuhörer/taktvoll/höflich geworden!“ Das heißt, was nur ein Gedanke war, wird mit der Zeit zu einer Charaktereigenschaft.

Daran sieht man, dass wir selbst uns als individuelle Wesen vollenden müssen, neu erschaffen müssen. Die Natur macht nur ein Naturwesen aus uns. Unsere eigene Identität müssen wir selber bestimmen. Denn wir sind zur Freiheit veranlagt. Die geistige Welt, unsere Schöpfer, warten, dass wir bei unserer Rückkehr sagen: „Jetzt weiß ich, wer ich bin. Ich habe es auf meine ganz eigene Weise herausgefunden, habe mich selbst definiert“.< /span> Auf diesem Weg wandert naturgemäß jeder allein. Jeder muss das, was er sein möchte, für sich selbst bestimmen.

Die Kraft der Identifikation

Daraus entwickelt sich geistige Wärme, geistige Zuversicht, geistige Kraft – eine Ich-Identität, die auch den Tod überdauert. In unserem Ich sind Liebeskraft, Wahrheitskraft, der Respekt vor Anderen veranlagt. Das Ich ist die Quelle aller Tugenden – doch müssen wir sie aus eigenen Stücken entwickeln. Je mehr wir davon entwickeln, umso menschlicher wird es auf Erden, umso angstfreier, zuversichtlicher und optimistischer werden wir im Leben stehen. Das zeigen uns all die Menschen, die bereits an diesen Punkt gekommen sind.

Die Chance und Größe der Tragik der heutigen Zeit liegt darin, uns bewusst zu machen, dass jeder einzelne von uns dazu aufgerufen ist, seine Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen und aus diesem Zu-sich-Kommen heraus, tiefes Interesse für den Umkreis zu entwickeln. Indem man selbst merkt, wie schwer das ist, entwickelt man Empathie für alle anderen, die diesen Weg auch gehen, jeder auf seine Weise. Dadurch wird das Verständnis füreinander vertieft.

Spruch von Rudolf Steiner über die Selbstfindung

Im Folgenden ein Spruch von Rudolf Steiner über die Selbstfindung, der das Nadelöhr beschreibt:

Meditation zur Gewinnung des Ich

Ich schaue in die Finsternis:
In ihr ersteht Licht,
Lebendes Licht.
Wer ist dies Licht in der Finsternis?
Ich bin es selbst in meiner Wirklichkeit.
Diese Wirklichkeit des Ich
Tritt nicht ein in mein Erdendasein.
Ich bin nur Bild davon.
Ich werde es aber wieder finden,
Wenn ich,
Guten Willens für den Geist,
Durch des Todes Pforte gegangen.5

Volle Geistbegegnung können wir heute so, wie wir konstituiert sind, noch gar nicht haben, aber – so wird es in Nahtoderlebnissen berichtet – im Sterben haben wir diese wunderbare Begegnung mit dem Licht, mit unserem ewigen wahren Ich, das uns in unserer wahren Identität bestärkt und das nachtodliche Bewusstsein aufrechterhält.

Das Hohelied der Liebe

Zum Abschluss möchte ich das sogenannte „Hohelied der Liebe“ von Paulus in einer kurzgefassten Version sprechen:6

„Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig.
Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf.
Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil,
lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach.
Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit.
Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand.
Die Liebe hört niemals auf.
Die Liebe ist großherzig, ist gütig.
Die Liebe neidet nicht, die Liebe prahlt nicht, ist nicht hochmütig,
verletzt nicht die Würde, sucht nicht das Ihre.
Sie lässt sich nicht erbittern, trägt niemandem Böses nach,
freut sich nicht über Unrecht, freut sich nur mit der Wahrheit.
Sie umkleidet alles, ist allvertrauend, allerhoffend, allerduldend.
Liebe kann niemals verloren gehen.“

Diese wunderbaren Worte dienen uns vor allem während unseres Lebens als Wegweiser hier auf Erden, beschreiben aber auch den ewigen Aspekt der Liebe.

Vgl. Vortrag „Seelische Wärme statt Angst vor der Zukunft“, in Altenschlirf 2014

  1. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4.
  2. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.
  3. Neues Testament, Johannes 3, 5.
  4. Rudolf Steiner; Ita Wegmann, Grundlegendes zur Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27, 1991.
  5. Rudolf Steiner, Mantrische Sprüche, London, 2. September 1923, GA 268.
  6. Neues Testament, 1. Korinther 14.