Krisenmanagement bei Zeitdruck
Was verursacht Zeitdruck in der heutigen Zeit?
Welche negativen Auswirkungen hat Zeitdruck auf uns Menschen?
Wie kommt man aus dieser „Zeitfalle“ wieder heraus?
Notwendige Beschäftigung mit dem Zeitbegriff
Angesichts der laufenden Umstellungen im Gesundheitswesen ist es nötig, dass im sozialen Bereich Tätige sich mit dem Thema Zeit beschäftigen und lernen, sich immer bewusster selbst zu strukturieren. Das bedeutet auch, dass wir uns als Individuen mit mehr Sensibilität und Qualitätsbewusstsein diesem Thema Zeit und Zeitdruck nähern.
Denn es genügt nicht, dass man all seinen guten Willen einsetzt und dabei auch mentale Anstrengung auf sich nimmt, um sich an eine angeblich qualitätssichernde Maßnahme und Verordnung nach der anderen anzupassen, kraft der Liebe zum Patienten bzw. kraft des eigenen Hingabewillens.
Warum es vor allem ein umfassenderes Verständnis von Zeit braucht, möchte ich im Folgenden erläutern. Seit meiner Schulzeit begleitet und begeistert mich die Formel: v = s / t. Das ist die sogenannte Geschwindigkeitsformel, die besagt: Geschwindigkeit ist Weg durch Zeit.
Die Freiheit von sich selbst als Initiationsmoment
In der Maschinenwelt gibt es Motoren mit hohen Drehzahlen bis hin zu Düsenjets, die eine Super-Geschwindigkeit entwickeln können.
Bei der Überlegung, in welcher Weise in der Evolution Geschwindigkeit entstand, stieß ich jedoch in erster Linie auf die Tatsache, dass es Wesen gab, die sich bewegten, die Geschwindigkeit aus sich selbst erzeugten. Geschwindigkeit hatte ursprünglich ihren Sitz im Willen von Lebewesen, von Menschen und Tieren.
Geht man einen Schritt weiter, kann man die ganze Entwicklung als hervorgegangen und hervorgehend aus der Begegnung von Wesen auffassen, die mit unterschiedlicher Geschwindigkeit etwas tun. Entwicklung ist demnach der Versuch, unterschiedliche Geschwindigkeiten auszugleichen.
Um es konkret zu machen: Immer ist jemand ein bisschen weiter als man selbst. Man kann sich fragen, ob man von den Betreffenden etwas lernen kann. Oder wenn jemand weniger weit ist in irgendeinem Bereich, könnte man Hilfe anbieten. Von anderen lernen und anderen helfen, sich selber entwickeln und anderen Assistenz geben für ihre Entwicklung – diese beiden Gesten liegen allem Weiterkommen zugrunde. In dieser Weise kann sowohl
- das Wesen von Geschwindigkeit erfasst werden
- wie auch der Sinn der Unterschiedlichkeit unseres Entwicklungstempos.
Die soziale Dimension der Geschwindigkeitsformel
Die Geschwindigkeitsformel, also die Tatsache, dass Geschwindigkeit definiert wird über die Zeit, die man für einen bestimmten Weg braucht, hat auch eine soziale Dimension. Denn vom Sozialen her betrachtet, ist Folgendes offensichtlich: Jeder, der helfen oder pflegen will, braucht dafür ein bestimmtes Ausmaß an Zeit, wie z.B. für die Wege im Krankenhaus, auf den Korridoren. Und auch für alles, was man tun will, braucht man eine bestimmte Zeit. Ein Prozess ist gesund und stimmig, solange man ihn selbstbestimmt und menschlich gestalten kann, d.h., dass man genug Zeit dafür hat.
Unzumutbar und problematisch wird das Ganze in dem Moment, in dem man die Formel v = s / t umwandelt und den Zeitfaktor voranstellt: t = s / v. Das bedeutet: Zeit ist Weg durch Geschwindigkeit oder anders ausgedrückt: Die Zeitvorgabe bestimmt über das Tempo, in dem ein bestimmter Weg zurückgelegt oder ein bestimmter Handgriff erledigt werden muss. Wenn die Zeit an erster Stelle steht, müssen sich Geschwindigkeit und Weg danach richten.
Diese Situation haben wir heute allerorts. Alles richtet sich nach vorgegebenen Zeitspannen oder bestimmten Zeitpunkten.
Wenn Zeit zum Diktator wird
Das entspricht auch der Signatur des Wirtschaftslebens: Je schneller, je effizienter produziert und gearbeitet wird, desto mehr kann verdient werden. Das Diktat der Zeit ist eine rein wirtschaftliche Denkweise und entspringt einer bestimmten Wirtschaftsauffassung, der liberalen, die den „freien Markt“ als Spielplatz sieht für ein „Spiel“, bei dem Gewinnmaximierung und Zielorientiertheit den Ausschlag geben.
Und da das Wirtschaftsleben in der heutigen Zeit eine Schlüsselrolle spielt für alle sozialen Bereiche, ist klar, dass alle Uhren sich immer mehr nach dem Takt der Wirtschaft richten, einem Takt, dem sich alles unterzuordnen hat.
Damit aber wird der Mensch, der eigentlich Erzeuger einer autonom gewollten, sozial verantworteten menschlichen Geschwindigkeit sein sollte, bei der Durchführung seiner Vorhaben im Hinblick auf die Zeit entmündigt. Er ist seines eigenen Weg- und Zeitmanagements enthoben worden. Kindern muss man anfangs gewisse Zeitstrukturen vorgeben, solange sie ihren Tagesablauf noch nicht selbst organisieren können. Solche Vorgaben sind für Abhängige und Unmündige angemessen. Für Erwachsene jedoch ist es entwürdigend, wenn sie bei der Einteilung ihrer Zeit nicht entscheidend mitgestalten und mitsprechen dürfen. Es zwingt sie in eine künstliche Unmündigkeit und Abhängigkeit.
Die Geschwindigkeit des Teufels
Mich hat diese Thematik sehr an ein berühmtes Faust-Fragment von Gotthold Ephraim Lessing erinnert, dem deutschen Aufklärungsdichter. Es handelt davon, dass Faust sich überlegt, mit welchem Teufel er denn am liebsten zusammenarbeiten möchte, von welchem Teufel er sich helfen lassen möchte. Faust entscheidet sich für den Teufel, der am schnellsten ist. Den hält er für den besten Teufel. Und so lässt er alle kommen und fragte sie der Reihe nach: „Wie schnell bist du?“ Der Erste sagt: „Ich bin schnell wie der Schall!“. Der zweite: „Ich bin schnell wie der Blitz!“. Noch besser. Und so treten sie, einer nach dem anderen vor ihn hin. Zum Schluss kommt einer und sagt: „Ich bin so schnell, wie das Gute in das Böse übergehen kann!“. „Ah, du bist mein Teufel, mit dir arbeite ich zusammen!“ , lautete Fausts Antwort.
Das ist die größte Geschwindigkeit: Gestern noch war etwas gut, vor dem Bruchteil einer Sekunde auch noch, jetzt nicht mehr. So schnell kann es gehen, dass eine Sache kippt und in ihr Gegenteil übergeht. Das vermag diese diabolische Kraft. In der Anthroposophie nennen wir diesen Geschwindigkeitsteufel Ahriman.
Zwei teuflische Qualitäten
Wenn wir in alte Zeiten zurückgehen, haben wir es, mit einem anderen Teufel zu tun: Er wiederum hielt Menschen davon ab, sich zu sehr auf das Alltagsleben einzulassen. Ihnen genügte es unter seinem Einfluss, in aller Abgeschiedenheit zu meditieren. Sie arbeiteten ausschließlich an ihrem Bewusstsein und der Erlangung von Weisheit. Der Teufel, der sie inspirierte, auch Luzifer genannt, neigte dazu, sich über andere zu überheben. Er ist auch heute noch wirksam und verleitet den Menschen dazu, seine spirituellen Begabungen zur Selbstprofilierung zu missbrauchen, anstatt sie in den Dienst einer Erdenaufgaben zu stellen.
Wir haben es also mit zwei ganz verschiedenen teuflischen Qualitäten zu tun:
die eine Qualität, von Luzifer inspiriert, kommt aus der Vergangenheit und steht mit Bewusstsein und Kompetenz in Verbindung;
die andere Qualität, von Ahriman inspiriert, ist stark mit dem Willen verbunden und bemisst sich am Tun und am Tempo. Für sie die Schnelligkeit Trumpf: Es zählt nur, was jemand alles anzuschieben, zu strukturieren und zu manipulieren in der Lage ist.
Im Neuen Testament heißen diese beiden Mächte des Bösen (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Wirksamkeit von Luzifer und Ahriman)
- Diabolos oder Luzifer
- und Satanas oder Ahriman.
Der Mensch im Spannungsfeld von beiden
Diese beiden Aspekte des Bösen werden im zwölften Kapitel der „Apokalypse“ als Drache beschrieben, der eine diabolisch-satanische Natur hat. Der Erzengel Michael brachte diesen doppelten Drachen zu Fall und stürzte ihn auf die Erde (vgl. Michael der Bezwinger des Drachen als Inspirationsquelle für das Ich). Laut Rudolf Steiner ist sein Landeplatz auf Erden nicht in der Natur bei Pflanze, Tier und Mineral zu finden. Dort folgte von Anbeginn alles einem wunderbar geordneten gottgegeben Gleichgewicht.
Stattdessen durften die beiden Teufel in Gestalt des Drachen in der menschlichen Natur „landen“ und sich dort festsetzen. Denn Gott hat, bildlich gesprochen, das Wesen Mensch nicht fertiggestellt. Wir sind aber nur halbfertige Geschöpfe, denen es obliegt sich selbst zu vervollständigen. D.h., wir sind von Natur aus dazu veranlagt, uns selbst freiwillig in die eine oder andere Richtung zu vollenden (vgl. Geist und geistiges Wesen: Eigener Zugang zum Geistigen):
- zu regredieren, zu entarten, zu dehumanisieren
- oder uns zu humanisieren, menschlicher zu werden.
Jeder von uns befindet sich irgendwo in einem Spannungsfeld von Umständen und Zeitbedingungen, die in die eine wie in die andere Richtung auf uns wirken können. Wir müssen uns entscheiden, ob wir dehumanisieren oder immer menschlicher werden wollen (vgl. Geist und geistiges Wesen: Geisterkenntnis und Freiheit). Sich über diese Entscheidungsmöglichkeit, dieses Entwicklungspotential klarzuwerden, dass wir alle es mit diesen beiden Möglichkeiten zu tun haben, muss integraler Teil unseres Gesundheitsbewusstseins werden.
Schrittweise Regression als negative Auswirkung von Zeitdruck
Im Folgenden möchte ich über die negativen Wirkungen von Zeitdruck sprechen, zu einer schrittweisen Regression führen. Durch Druck von außen wird Stress hervorgerufen.
- 1. Stufe – Anpassung
Wenn einem die Gegebenheiten, die dazu führen, nun als notwendig verkauft werden, als sinnvoll, als etwas Gegebenes, das gemacht werden müsse aufgrund einer neuen Verordnung oder weil der Klinik das Geld fehlt, weil eine Stelle gestrichen werden musste, weil gerade drei Leute krank sind – reagieren viele mit Anpassung. Ganz selbstverständlich, man sieht das ein, man passt sich an. Das ist die erste Stufe.
- 2. Stufe – Einengung des Bewusstseins
Aus der Anpassung folgt eine Art Regression. Dabei wird der Fokus des eigenen Bewusstseins immer enger, man sieht nur noch auf das, was nötig ist und gefordert wird. Man ist froh, es überhaupt zu schaffen. Die nächste Stufe ist also eine Einengung des Bewusstseins.
- 3. Stufe – Prozess der Desozialisierung
Als Drittes tritt als Folge dieser Einengung das Problem auf, dass man rechts und links nicht mehr richtig hinschaut, weil das ja Zeit kostet. Pünktlichkeit wird wichtiger als soziale Begegnungen, weil auch diese Zeit kosten. Man vermeidet aus den gleichen Gründen persönliche Gespräche. Es kommt zu einem Prozess der Desozialisierung, zu einer zunehmenden Einengung auf den eigenen Willensimpetus, bei dem man den Umkreis immer weniger miteinbezieht. Man wird dann im Gegenzug auch weniger beachtet, die Kollegen fangen an, über statt mit einem zu reden. Man fühlt sich zunehmend in der Defensive und verunsichert.
- 4. Stufe – Zunehmende Ängstlichkeit
Als Nächstes beginnt man unter den Folgen dieser Einengung zu leiden. Unsicherheit stört den Schlaf, macht ängstlich und unzufrieden. Diese negativen Gefühle lassen einen langsam ausbrennen, man hat keine richtige Freude mehr am Leben. Pflicht alleine ist auf Dauer keine Nahrung, hilft nicht gegen diese Folgezustände.
- 5. Stufe – Regression in diverse Abhängigkeiten
Und dann kommt der wirkliche Rückschritt, die Talfahrt in die Regression. Regression bedeutet, dass man in seiner Entwicklung zurückschreitet. Man sucht wieder Geborgenheit, Sicherheit, Nestwärme. Man wird abhängig von Menschen, von Drogen, von Geld. Man regrediert in immer kindlichere Verhaltensmuster und Bedürfnisse.
- 6. Stufe – Verhaltensauffälligkeiten
Je nach Veranlagung und Charakter treten Begleiterscheinungen echter Dehumanisierung auf in Form von diversen Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten.
Bei Kindern kann man zunehmend solche Verhaltensauffälligkeiten unter dem Aspekt der Stresssymptomatik sehen. Verhaltensauffällige Kinder fühlen sich nicht verstanden, nicht gesehen, nicht anerkannt, nicht geliebt, fühlen sich bloß diagnostiziert und herumgeschoben. Sie empfinden ihr ganzes Leben als eine Anhäufung von Stressmomenten. Sie fragen sich:
Bin ich hier überhaupt gewollt?
Den großen Entwicklungsbogen sehen lernen
Diese Zusammenhänge zu durchschauen, ist eminent wichtig, nicht nur, damit wir uns selber schützen und uns gegenseitig darauf aufmerksam machen können. Wir müssen auch das Diabolische erkennen, das in dem System steckt, in dem heutigen Zeitmanagement, das von der Wirtschaft in punkto Geschwindigkeit betrieben und immer noch mehr beschleunigt wird. Und damit bin ich wieder bei der Notwendigkeit von Zeitmanagement. Wer den ganz großen Entwicklungsbogen kennt und durchschaut, hat wieder die Möglichkeit, innerlich zur Ruhe zu kommen. Wer die großen Menschheitsaufgaben der heutigen Zeit kennt, wer sich für die Zeitproblematik interessiert (vgl. Menschheitsentwicklung: Der göttliche Weltenplan), entdeckt die Herausforderungen auch im Kleinen, im Beruf und bei sich zuhause.
Dies bewirkt zwei schöne Dinge: Man kann einerseits im Kleinen bei sich zuhause und im Beruf an den großen Weltaufgaben arbeiten und fühlt sich wieder mehr in die Evolution eingebunden und nicht nur als „Strandgut“ der Weltgeschichte. Auf der anderen Seite kann man die freigewordene Kraft in einen Verband investieren (vgl. Gemeinschaft(sbildung): Gemeinschaftsfähigkeit stärken), sodass dieser auch ein bisschen mehr Kraft dazu gewinnt und fördert damit die gesamtmenschliche, soziale, so bitter nötige Auseinandersetzung.
Zeitdruck als einer Form von Gewalt widerstehen
Ich möchte passend dazu einen Text auf Deutsch und Englisch zitieren. Es ist ein Aphorismus von Thomas Morton (1915 bis 1968) aus „Relevance for Life“:
„The rush and pressure of modern life are a form, perhaps the most coming form, of its innate violence, to allow oneself to be carried away by a multitude of conflicting concern, to surrender to too many demands, to commit oneself to [too?] many projects. To want to help in everything is to succumb to violence.”
Auf Deutsch:
„Die Hetze und der Zeitdruck von heute sind Ausdruck einer Form von Gewalt, die dem Leben selbst innewohnt – vielleicht die gängigste Form. Zuzulassen, dass man von einer Vielzahl von Konflikten und Sorgen mitgerissen wird, zu viele Ansprüche auf einmal zu erfüllen, sich zu vielen Projekten zu widmen. Allem und allen helfen zu wollen bedeutet, sich dieser Gewalt hinzugeben.“
Zum Abschluss einen Spruch von Rudolf Steiner, den er Ita Wegman gab, als sie nach der inneren Kraftquelle für die Pflegenden fragte. Diese innere Kraftquelle wirkt gleichermaßen nach innen und nach außen:
„Im Herzen wohnet in leuchtender Helle
Des Menschen Helfersinn.
Im Herzen wirket in wärmender Macht
Des Menschen Liebekraft.
So lasset uns tragen der Seele vollen Willen
In Herzenswärme und Herzenslicht.
So wirken wir das Heil den Heilbedürftigen
Aus Gottes Gnadensinn.“
Vgl. Vortrag „Zeitmanagement, ein neues Verhältnis zur Zeit bekommen“, am 4. Internationaler Pflegekongress, am 19.-21.10.2006