Das entwicklungsorientierte Mediencurriculum der Waldorfpädagogik
Welche pädagogischen Maßnahmen und Schritte umfasst das Mediencurriculum?
Welche Grundsatzüberlegungen stehen dahinter?
In der frühen Kindheit hat – wie schon mehrfach betont – die indirekte Medienpädagogik unbedingten Vorrang (vgl. Medienpädagogik: Aufruf gegen zu frühe Gewöhnung an Medien). Sobald das Kind in die Schule kommt, beginnt die direkte Medienpädagogik. Sinnvollerweise geschieht dies auf analoge Weise: mit Stift und Papier. Denn das Schreiben mit der Hand übt Feinmotorik und Geschicklichkeit. Hat man mit Kindern zu tun, die von zu Hause her den Umgang mit Tablet & Co bereits gewöhnt sind, so ist es wichtig, ihnen deutlich zu machen, wie schön es ist, das, was die Maschinen einem bieten, auch selbst zu können, damit man von ihnen unabhängig sein kann. Auch sollten aktuelle Probleme im Zusammenhang mit Computerspielen oder sozialen Netzwerken in allen Unterrichtsfächern und Jahrgangsstufen jeweils behandelt werden, wenn ein Anlass dazu in der Klasse gegeben ist.
Wenn dann etwa mit zwölf Jahren sich die Denk- und Urteilsfähigkeit der Kinder so weit entwickelt hat, dass sie logisch-kausale Zusammenhänge genauer erfassen können, ist es sinnvoll und notwendig, mit ihnen auch eingehender über Computertechnologie zu sprechen. Allerdings ist zu beachten, dass zwölfjährige Kinder zwar fähig sind, grundlegende Aspekte und Zusammenhänge der digitalen Kommunikationswelt und ihre Möglichkeiten und Risiken zu verstehen, dass sie aber doch noch mehrere Jahre brauchen, bis sie die Fähigkeit der Selbstreflexion sowie der Selbstregulation so weit ausgebildet haben, dass sie den vielfältigen Versuchungen der Cyberwelt widerstehen können. Jugendliche brauchen daher gerade in dieser Zeit noch die helfende Hand ihrer Eltern sowie der Lehrkräfte, die ihnen Grenzen setzen bzw. sie vor dem zu frühen Gebrauch der digitalen Endgeräte schützen.
Zum Fachgebiet Medienpädagogik
Die langjährige Beobachtung zeigt, dass Schüler*innen erst ab der elften Klasse, d. h. vom 17. Lebensjahr an, in der Lage sind, Informationstechnologien sinnvoll und selbstbestimmt in ihr Leben zu integrieren (vgl. Waldorfpädagogik: Entwicklungsphasen und Pädagogik im Schulalter). Daher ist es ratsam, bis zum zehnten Schuljahr den Schwerpunkt auf das Technologieverstehen zu legen als Voraussetzung für die sachgerechte Handhabung im elften und zwölften Schuljahr.
Für die Waldorfschulen wird empfohlen, allen Unterricht mit medienpädagogischem Bewusstsein zu gestalten. Das setzt aber bei den Lehrkräften Interesse für die Welt, Engagement und fortwährende – auch autodidaktische – Weiterbildung voraus. So können beispielsweise Klassenlehrer*innen im siebten und achten Schuljahr die dort im Lehrplan vorgesehenen Geschäftsbriefe zum Anlass nehmen, das Zehnfingerschreiben an der Tastatur zu lernen. Die Schüler*innen können ihre Geschäftsbriefe offline am Computer schreiben. Oder man kann beispielsweise die große Kunstgeschichtsepoche im neunten Schuljahr zum Anlass nehmen, auch über die digitalen Möglichkeiten der Bildbearbeitung zu sprechen. Auch ist es wichtig, dass die Jugendlichen – wiederum anhand praktischer Projekte – die Sprache der fotografischen und filmischen Bilder kennenlernen.
Voraussetzungen für sinnvolle Nutzung von Medien an Schulen
Die pädagogische Forschung zeigt, dass eine Ausstattung von Schulen mit digitalen Medien nur unter bestimmten Voraussetzungen sinnvoll ist. 2013 erschien in deutscher Übersetzung die von John Hattie veröffentlichte Metastudie Lernen sichtbar machen. Diese extrahiert die Ergebnisse von 800 Meta-Analysen, die ihrerseits rund 80.000 Einzelstudien zusammenfassen.1 Es ist also eine der umfassendsten Metastudien, die je gemacht wurden.
Diese Studie stellte als zentrales Ergebnis fest, dass es in erster Linie die Persönlichkeit der Lehrerin oder des Lehrers ist, welche die Kinder am meisten zum Lernen anregt. Die Individualität der Lehrperson beeinflusst die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen am stärksten (vgl. Waldorfpädagogik: Lehrertugenden und Professionalität). Von der wechselseitigen Durchdringung ihrer pädagogischen und didaktischen Kompetenzen mit ihrer Fachkompetenz hängt der Bildungserfolg der Kinder am stärksten ab – und von der Kooperation mit denjenigen, die ebenfalls an der Erziehung und Bildung beteiligt sind: den Eltern.
Diese Studie geht auch der Frage nach, wie sehr der Einsatz technischer Medien zum Lernerfolg der Kinder beiträgt. Das Ergebnis: Wesentliche Bildungserfolge ergeben sich nur dann, wenn durch den Einsatz von Medien neue Lernsituationen entstehen, die man durch die bisher zur Verfügung stehenden Medien nicht hätte schaffen können.2 Also: Tablets anstelle von Schulbüchern einzusetzen, ist für den Lernerfolg irrelevant; Kinder lernen dadurch nicht besser.
Produzieren vor Konsumieren
Der Einsatz von Technik hat nur dann einen Sinn, wenn dadurch neue Aufgaben erschlossen werden (vgl. Medienpädagogik: Befreiung durch Technik und ihre Folgen). Eine kleine Schüler*innengruppe erhält beispielsweise den Auftrag, über eine geschichtliche Persönlichkeit einen Film zu drehen. Einem solchen Film gehen zahlreiche Recherchen voraus, die sich nach vielen Überlegungen in einem kleinen Video kondensieren. Das Wesentliche dabei ist nicht der Film, sondern die dazu notwendige intensive Beschäftigung mit der Biografie der porträtierten Person.
Man kann auch eine Oberstufenklasse damit beauftragen, über einen mathematischen Sachverhalt ein Erklärvideo zu drehen, wie sie ja tausendfach auf YouTube zu finden sind. Das wäre ein Gegengewicht gegen eine deutlich sichtbare Tendenz in der Kultur. Immer wieder wird gesagt oder geschrieben, wie glücklich Schüler*innen, Eltern und auch Pädagog*innen über die im Internet angebotenen Lern- und Erklärvideos seien. Lehrer*innen benutzen sie für ihre Vorbereitung, eine wachsende Anzahl von Schüler*innen kann sich ohne sie den Schulalltag nicht mehr vorstellen.
Das alles hat aber auch eine Kehrseite: „Erklärvideos verändern allerdings auch das Lernverhalten der Jugendlichen. ‚Während es beim Lernen in der Klasse vor allem um den Austausch geht, steht bei YouTube-Videos schnelles, auf Effizienz getrimmtes Einverleiben von Fakten im Vordergrund‘, gibt Philippe Wampfler zu bedenken. ‚Ich konsumiere nur, bin selber aber passiv.‘“3 Der Lehrer und Fachdidaktiker Philippe Wampfler, der durch seine Veröffentlichungen auch als Experte für Lernen mit Neuen Medien gilt, schlägt daher mit Recht vor, dass Lehrer*innen und Schüler*innen gemeinsam ein Erklärvideo herstellen. Es geht in der Schule nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch um Entwicklung und Menschenbildung und dafür braucht es neue Impulse für die Lehrer*innenbildung und eine deutlich erhöhte Wertschätzung dieses Berufes.
Vgl. „Schule als Ort gesunder Entwicklung“, März 2020, ISBN: 978-3-939374-76-3
- John Hattie: Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von Visible Learning. Hrsg. Wolfgang Beywl, Klaus Zierer. Baltmannsweiler 2013.
- Klaus Zierer: Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich. Baltmannsweiler 2017, S. 63.