Architektur, soziale Gestalt und Kunstimpuls

Man kann sich fragen, warum Rudolf Steiner sich die Mühe machte, als Architekt aufzutreten, vor allem beim Bau des Ersten und Zweiten Goetheanum. In Bezug auf die Kunstrichtungen Sprache und Eurythmie sind seine Absichten klar. Doch die Angaben zu anderen Kunstzweigen sind bereits so spärlich, dass sich die Kunsttherapeuten oft als unterprivilegiert gegenüber den erstgenannten Bereichen fühlen. Worüber er aber fast nie sprach, ist die Architektur.

Wir können aber feststellen, dass Rudolf Steiner immer einen sozial-architektonischen Bezug herstellte, bevor er ein Bauwerk begann. Und auch bevor er den Kunstimpuls 1907 setzte,1 bemühte er sich in den Jahren davor in der theosophisch-anthroposophischen Gesellschaft um die Pflege des menschlichen Zusammenhanges. Die soziale Architektur bestand also bereits, bevor das Künstlerische überhaupt zum Tragen kam: Den Kunstimpuls setzte Steiner dann bewusst als Gestaltungsimpuls in einer sozial kritischen Situation. Dazu gehört aber auch die Tatsache, dass das soziale Gefüge, das jede anstehende Baumaßnahme am Goetheanum erst ermöglichte, über Jahre und Jahrzehnte gewachsen war.

Jede Kunstrichtung hat einen sozial-architektonischen Aspekt, wie auch jede ihre Architektur, ihren eigenen Aufbau, hat: Das zeigt sich im Aufbau eines Gedichtes, in den räumlichen Formen in der Eurythmie, in der Bildkomposition in der Malerei, in der Gestalt einer Plastik, im Aufbau einer Komposition usw. Darüber hinaus sind die Künste miteinander verbunden und wirken zusammen, wie es auch die Sinne tun: Man kann mit Blicken tasten, mit den Händen sehen, mit Klängen malen, und malend Farbklänge erzeugen. Das ist grandios.

Kunst ist, wie alles Soziale auch, prozesshafter Natur. Das Soziale ist jedoch aufgrund der Stagnation in vielen Bereichen heute vielfach krank: Die Prozesse, die stattfinden, sind politisch reaktionär, retardierend, kriegerisch. Auch im Privaten „steckt man weg“, zieht sich zurück – nur selten finden heilende Prozesse statt. Rudolf Steiner als Baumeister im Sozialen war klar, dass die gesunde Gestaltung des Sozialen auf einem künstlerischen Prozess basieren muss, um zu einer wahrhaft sozialen Gestalt zu führen.

Vgl. Einleitung zur Sprachtherapietagung 2012 am Goetheanum

  1. Mit Rudolf Steiners temporärer Gestaltung des Saales für den Kongress der Theosophischen Gesellschaft in München 1907 trat sein Impuls, das Kunstschaffen aus geisteswissenschaftlicher – anthroposophischer – Quelle zu erneuern und zu bereichern erstmals in die Sichtbarkeit (dokumentiert in Band 284/285 der R. Steiner Gesamtausgabe). Bereits in dieser situationsbedingt installativen Arbeit deutete sich die Idee an, die Künste wieder als "Gesamtkunstwerk" zu vereinen. (www.goetheanum.org)