Aufbau der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft

Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft stellt quasi die „Innenseite“, den sozialen Aspekt, des Goetheanum dar (vgl. Freie Hochschule für Geisteswissenschaft: Architektur soziale Gestalt und Kunstimpuls). Sie wurde von Rudolf Steiner im Anschluss an die Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft bei der Weihnachtstagung 1923/24 ins Leben gerufen und hat ihren Hauptsitz am Goetheanum in Dornach, ihre Mitglieder arbeiten jedoch weltweit im Sinne ihrer Zielsetzung: die geistige Forschung aus der Anthroposophie Rudolf Steiners (vgl. Anthroposophie: Leitmotive der Anthroposophie) heraus weiterzuführen und die einzelnen anthroposophischen Arbeitsfelder zu befruchten über die spirituelle Entwicklung des einzelnen wie auch der Gemeinschaft. Die Sektionen sind Arbeitsgemeinschaften, die sich um Formen der Zusammenarbeit bemühen, die dem christlich-künstlerischen Empfinden gemäß sind und die die heilkünstlerische und -pädagogische Tätigkeit nicht behindern dürfen, sondern sie vielmehr unterstützen bzw. abbilden sollen.

Rudolf Steiner gestaltete die Hochschule in Form eines Netzwerks aus horizontalen Ebenen und Vertikalen:1 Die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft ist ihr Träger und Förderer, quasi der Förderverein. Grundlage der Arbeit sind die sogenannten Klassenstunden (ursprünglich drei geplante Klassen). Rudolf Steiner konnte selbst nur noch die Ersten Klasse einrichten. Die vertikal ausgerichteten Sektionen mit ihren unterschiedlichen Themenschwerpunkten durchkreuzen die Ebenen, sodass die Klassenstunden quasi als spirituelle Werkstatt dienen: Dort entwickeln die Mitglieder besondere Instrumente und Fähigkeiten – einzig und allein, um damit dem Leben zu dienen. Das ist der rosenkreuzerische Impuls der Hochschule und zugleich ihre Hauptorientierung.

Drei Bedingungen

Bestimmte Bedingungen müssen als Aufnahmevoraussetzung in die Hochschule angestrebt werden:

  1. Vertrautheit und Verbindlichkeit im Umgang mit dem anthroposophischen Entwicklungsweg und der meditativen Praxis (vgl. Meditation auf anthroposophischer Grundlage: Allgemeines über meditatives Üben).
  2. Bemühen um den sozialen Zusammenhalt mit anderen tätigen Mitgliedern, weil man als Einzelner gar nicht in der Lage wäre, die Themenschwerpunkte ausreichend zu erarbeiten. Dazu braucht man die anderen, braucht man die Vielfalt: Jeder arbeitet anders, jeder hat eine andere Herangehensweise. Wir können aneinander erwachen und voneinander lernen.
  3. Bereitschaft, die Anthroposophie in allen Bereichen des Lebens zu repräsentieren.

Bei diesen drei Bedingungen geht es um soziale Prozesse – um den Umgang:

  1. mit sich selbst,
  2. mit anderen,
  3. mit der Sache, die man vertritt.

Bei den drei Bedingungen zur Aufnahme in die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft handelt es sich um drei Willensorientierungen, bzw. um drei wesentliche Willensqualitäten. Es geht dabei nicht um Ergebnisse, sondern um unsere Absichten:

Was willst du?

Willst du den Weg gehen?

Willst du dich mit anderen darüber verständigen?

Und willst du auch, dass das Leben, das du führst, Zeugnis davon ab belegt, dass du diesen Weg gehst?

In der christlichen Sprache würde man sagen, die dritte Bedingung ist die Bedingung der Zeugenschaft.

Sind wir Zeugen der Menschlichkeit, von der wir sprechen?

Sieht man sie an der Art, wie wir leben?

Repräsentieren wir die Sache?

Universelle Sprache des Denkens

Die Hochschule kann dabei eine enorme Hilfe sein. Denn in den Klassenstunden werden 19 Meditationen3 als Zentrum unseres Erkenntnisweges gepflegt. Das ist ein menschheitlicher meditativer Weg zur Schwelle, der sich mit allen Religionen und esoterischen Systemen verträgt. Unter unseren Hochschulmitgliedern befinden sich Zen-buddhistische Tempelleiter aus Japan genauso wie Muslime, Katholiken, Protestanten und Atheisten. Das verträgt sich bestens, weil es um einen reinen Erkenntnisweg handelt, der beim Denken ansetzt. Jede Religion braucht das Denken, um ihre Grundsätze und Gebete zu formulieren und zu erklären.

Das Denken ist die universelle Sprache der Menschen – es ist die Ursprache. Jeder Übersetzer muss das Gesagte quasi in diese Ursprache übersetzen, d.h., er muss verstehen, was gesagt wird, und dann kann er es in der jeweiligen Fremdsprache formulieren. Würden die Übersetzer hier nur Worte übersetzen, würde man nichts von dem Gesagten verstehen. Die Ursprache des Denkens wird über Bilder, über Zeichen und auch über Worte, die den Gedanken tragen, übermittelt.

Luziferische, Ahrimanische und christliche Leitung

Es gibt drei Führungsprinzipien, eines von Luzifer, eines von Ahriman (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Wirksamkeit von Luzifer und Ahriman) und das dritte von Christus inspiriert:

  • Das luziferische Führungsprinzip arbeitet mit dem charismatischen Auftreten der Leitung. Führung geschieht durch das Wesen des Betreffenden, durch Faszination und Kompetenz. Wenn einer charismatischen Leitung „ein Zacken aus der Krone bricht“, kann Sympathie in Antipathie umschlagen.
  • Der ahrimanische Führungsstil arbeitet mit Macht, Geld und vereinnahmenden Techniken des Herrschens.
  • Rudolf Steiner ging es nun um den Aufbau einer Führungskultur, die auf den christlichen Prinzipien von Liebe und Freiheit beruht und zwischen den anderen beiden Prinzipien vermittelt: Die Leitung soll nur von denen als Leitung anerkannt werden, die sie auch wollen, und sollte auch nur mit denen zusammenarbeiten, die ihn oder sie als Leitung wünschen. Wäre es anders, könnten Leitung und Mitarbeiter einander nicht „auf Augenhöhe“ begegnen. Das wird nur durch die gegenseitige Freiwilligkeit möglich. Führung bzw. Leitung wird in manchen Bereichen noch gebraucht – auf Zeit. Um die mittlere Spur nicht zu verlieren, sollte sie sich aber ständig fragen: Macht Leitung hier noch Sinn? In welcher Art macht sie noch Sinn? Oder können Aufgaben bereits an andere delegiert werden?

Sektionsleiter als Autorität des Wirkens

Die Hochschule ist so aufgebaut, dass es für jeden Bereich eine eigenständige Leitung gibt im Sinne einer Selbstverwaltung. D.h., der Sektionsleiter selbst hat keine Macht, hat aber die Aufgabe, das Ganze zusammenzuhalten und zu schauen, wie er helfend und fördernd darauf einwirken kann. Je weniger ein Sektionsleiter mit den einzelnen Arbeitsbereichen direkt zu tun hat, desto mehr kann er sich um den Aufbau von neuen Bereichen kümmern. Ein Vorteil davon ist: In einem noch unerschlossenen Bereich kommt er niemandem in die Quere. Und in allen Bereichen, die bereits entstanden sind, hat der Sektionsleiter die Aufgabe zu loben und zu unterstützen.

Rudolf Steiner sagte, dass Leitung am Goetheanum keine Autorität der Lehre hätte – das meinte er auch in Bezug auf sich selbst. Das finde ich bemerkenswert.6 Die Leitungskultur des Herzens baut vielmehr auf der Autorität des Wirkens auf: Sektionsleiter sollen etwas tun, sollen koordinieren und fördern, haben aber nicht die Macht, den Leuten zu sagen, wo es lang geht – das wäre total abwegig.

Vgl. Einleitung der Sprachtherapietagung am Goetheanum, Dornach 2012

  1. Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a, Dornach 1987.
  2. Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs, 12. Vortrag, GA 317, Dornach 1924.
  3. Rudolf Steiner, Thomas Meyer (Hrsg.), Der Meditationsweg der Michaelschule in neunzehn Stufen / Die Klassenstunden, Rudolf Steiners esoterisches Vermächtnis aus dem Jahre 1924, 3. Aufl. Perseus 2013.