Grundlegendes zum Sinn von Krankheit
Welchen Sinn hat Krankheit im Leben des Menschen?
Inwiefern ist Krankheit ein spezifisch menschliches Phänomen?
Was haben Krankheit und geistige Erkenntnis miteinander zu tun?
Erkrankungen bei Tieren
Ein Vergleich zwischen Mensch und Tier in Bezug auf ihre Erkrankungsmöglichkeiten zeigt, dass Krankheit und Leiden spezifisch menschliche Phänomene sind. Wenn Tiere in der Wildnis erkranken, kommen sie entweder sehr rasch zu Tode oder die Erkrankung ist so leicht, dass sie ohne weiteres damit weiterleben können.
Welchen Sinn sollte eine Krankheit auch im Leben eines Tieres haben?
Die Lebensweise eines Hundes, eines Vogels, einer Biene oder einer Maus ist in ihrer Art vollkommen. Das Erleben von Schmerz und Leid würde keinen Wandel, keine neue Entwicklungsmöglichkeit bewirken. Eine Biene kann nicht noch „bieniger“, eine Kuh nicht noch „kuhiger“ werden, als sie es schon ist.
Krankheit wirft Fragen auf
Dass Krankheit im Gegensatz dazu etwas mit uns Menschen macht und damit auch unser eigenes Wesen in seiner Erscheinungs- und Ausdrucksweise verändern kann, weiß jeder, der schon einmal richtig krank war oder einen schweren Unfall hatte. Im besten Falle entwickeln wir uns durch Krankheit. Nur dem Menschen ist es gegeben, durch Leid und Schmerz Erfahrungen zu sammeln, die ihn in seiner Entwicklung weiterbringen. „Sicherheit“ und „Gesundheit“ als höchste Lebensideale sind mit der menschlichen Existenz auf Dauer nicht zu vereinbaren, denn jede Entwicklung bedarf der Krisensituationen, um fortschreiten zu können. Entwicklung zur Freiheit ohne die Möglichkeit, zu irren und zu entgleisen, ist nicht denkbar. Leiden erscheint nur dann sinnlos, wenn der Zusammenhang nicht mehr sichtbar ist, in dem dieses Leiden steht. Daher ist es notwendig, die menschliche Entwicklung als Ganzes mit all ihren Möglichkeiten ins Auge zu fassen und den Gedanken an wiederholte Erdenleben mit einzubeziehen.
Da anthroposophische Ärzte sich auch mit Fragen der Schicksalsbildung im Verlauf mehrerer Erdenleben auseinandersetzen, d.h. mit der Frage nach dem möglichen Gesetz der Wiederverkörperung, kann auch dieser Aspekt thematisiert werden – aber selbstverständlich nur, wenn der Betroffene Fragen in dieser Richtung hat. Es gibt jedoch viele Menschen, die infolge einer Erkrankung, die sie bei sich selbst oder in ihrem näheren Umfeld erleben, neue Fragen stellen, für die sie bisher keinen Anlass hatten. Oft stehen dabei Fragen nach dem Sinn und der Signatur des damit verbundenen Schicksals im Mittelpunkt. Ist man als ärztlich oder therapeutisch Behandelnder auf Fragen in dieser Richtung eingestellt, so können sich Gespräche ergeben, die für beide Seiten wesentlich sind. Nicht selten erfährt dadurch das Leben des Betroffenen mit oder nach der Krankheit eine neue Orientierung.
Den möglichen Ursachen auf den Grund gehen
Ein sensibler Punkt ist dabei die Schuldfrage. Denn diese ist nicht nur traditionell-historisch belastet – insbesondere im religiösen Kontext. Mehr noch, sie wird in der naturwissenschaftlichen Medizin bewusst ausgeklammert – es sei denn, es wird ein ärztlicher Kunstfehler beklagt. Ansonsten gibt es nur einen Schuldigen für die Krankheit: die Natur, d.h. den Körper, der nicht genügend Widerstandskraft und Ressourcen für die Selbstheilung hatte. Denn auch bei Lebensstilfragen, Alkohol und Drogen wird gerne eingewandt, dass dies ja nicht bei jedem Menschen zu behandlungsbedürftigen Krankheiten führe und dass letztlich auch hier die Natur oder destruktive Lebensumstände in Kindheit und Jugend die Schuldigen sind – nicht jedoch der Erkrankte.
So entlastend eine solche Haltung Leid und Schmerz gegenüber auch sein mag, so unbefriedigend ist sie letztlich für den Betroffenen. Denn wenn man an Stelle des Schicksals den Zufall setzt und die Bedeutung des Ereignisses in der eigenen Biographie unbearbeitet bleibt, verlagert sich die damit verbundene Sinnfrage für das eigene Dasein vielfach ins Unbewusste – was dann unter Umständen zusätzlich zum Krankheitsgeschehen belasten kann.
Drei Sinn-Ebenen von Kranksein
Rudolf Steiner regt dazu an, mit der Frage nach dem Wesen von Krankheit und Heilung das Lukasevangelium zu lesen. Die dort geschilderten Krankheitssituationen weisen auf drei sehr unterschiedliche Sinn-Ebenen:
- eine persönliche,
- eine soziale
- und eine menschheitliche.
- AD 1. Persönliche Ebene
Wo immer Jesus individuellen Menschen begegnete, wie der Schwiegermutter des Petrus oder dem Blinden von Jericho, ergab sich die Heilung aus dem Kontext. Man wird Zeuge einer Bewusstseinsveränderung durch das Erlebnis von Krankheit und Heilung. Die Schwiegermutter ist bereit zu dienen – und vielleicht auch, ihren Schwiegersohn Petrus mit Jesus ziehen zu lassen.1 Der blinde Bettler auf dem Weg nach Jericho hört, dass viele Menschen vorüberziehen und fragt, wer in ihrer Mitte ist. Als er von Jesus hört, ruft er laut, dieser möge sich seiner erbarmen. Und Jesus stellt die ‚Arztfrage‘: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“2 Er steht im Dienst des Kranken auf dessen Schicksalsweg. Nachdem dieser geheilt ist, folgt er Jesus nach.
- AD 2. Soziale Ebene
Ganz anders jedoch sieht der Heilungsvorgang aus, den Lukas im Anschluss an die Berufung der zwölf Jünger und die Feldrede mit den Seligpreisungen schildert.3 Hier ist Jesus auf dem Weg nach Kapernaum und der römische Centurio, Hauptmann einer Hundertschaft, erfährt davon. Sein Diener und naher Vertrauter liegt auf den Tod krank. Anstatt dass er sich selber auf den Weg macht, beauftragt er „die Ältesten der Juden“ Jesus zu bitten, das Leben seines Dieners zu retten. Sie tun dies mit dem Hinweis darauf, dass der Centurio das jüdische Volk liebe und die Synagoge erbaut habe – und so geht Jesus mit ihnen. Auf dem Weg zu seinem Haus aber schickt der Hauptmann ihm seine Freunde entgegen, die ihm sagen sollen: „Herr, bemühe dich nicht; ich bin nicht würdig, daß du in mein Haus eintrittst, darum habe ich auch nicht gewagt, selbst zu dir zu kommen. Sprich nur ein Wort, und durch dein Wort wird mein Knabe gesund.“ 4, 5
Damit hat sich infolge dieser Krankheit weder im Betroffenen noch in dem um ihn besorgten Menschen, dem Hauptmann, eine Wesensänderung vollzogen. Wohl aber haben die „Ältesten der Juden“ und die „Freunde des Hauptmanns“ sich in Bewegung gesetzt und für einen Nichtjuden und Freund um Hilfe gebeten. Diese sind dabei Jesus begegnet und Zeuge der Heilung geworden. Das ist eine andere Entwicklungsfigur als beim erstgenannten Heilungstypus. Die wesentlichen Ereignisse spielen sich im sozialen Umkreis der von der Krankheit Betroffenen – dem Hauptmann und seinem Diener – ab. Ohne den Anlass der Erkrankung wäre das alles nicht geschehen.
Unterschiedlicher Umgang mit Krankheit
In der täglichen Praxis begegnen einem diese beiden verschiedenen Sinn-Ebenen oft. Man kann sie dadurch voneinander unterscheiden, dass Erkrankte sehr unterschiedlich über ihre Krankheit sprechen und diese auch in ihr Leben integrieren.
Gehören sie zum zweiten Typus , so sind sie mit ihrer Krankheit identifiziert, können sie annehmen und das zur Gesundung Nötige eben tun, d.h., sie scheinen nicht schon an der bloßen Tatsache zu leiden, dass sie krank sind.
Erkrankte des ersten Typus hingegen sind von ihrer Krankheit persönlich emotional stark betroffen, hadern oft auch mit ihr und stehen vor der großen Herausforderung, sich mit ihr in irgendeiner Form konstruktiv auseinanderzusetzen.
- AD 3. Menschheitliche Ebene
Eine dritte Sinnebene geht über die persönliche und soziale hinaus. Sie hat eine menschheitliche Dimension und erinnert an das Buch Hiob in der Bibel. Dort wird die Sinnsuche ausführlich beschrieben und klargestellt, dass hier keine persönliche oder soziale Ursächlichkeit vorliegt. Das Ende der Geschichte und die Heilung hängen vielmehr mit Hiobs Verhältnis zu Gott und dem Teufel zusammen.
Dieser Krankheitstyp steht gleich zu Beginn der Heilungsgeschichten im Lukasevangelium. Jesus spricht in der Synagoge von Kapernaum weder mit dem Betroffenen, noch mit den Menschen in dessen Umkreis. Vielmehr wird der Leser Zeuge seines Dialogs mit dem Dämon, dem Wesen der Krankheit.6 Dieser Typ betrifft den objektiven Tatbestand, dass Krankheit und Schmerz Anteil am Wesen des Menschen haben.
Perspektive der Anthroposophischen Medizin
Aus der Perspektive der Anthroposophischen Medizin entsteht Krankheit, wenn Wesensanteile des Menschen – d.h. seine Wesensglieder – am falschen Ort tätig werden. Dass solche Verschiebungen oder Verirrungen möglich sind, ist der Unvollkommenheit bzw. Entwicklungsbedürftigkeit des Menschen geschuldet. Ein ‚Geistiges am falschen Ort‘ oder mit der Sprache des Neuen Testaments – der Dämon der Krankheit – sind in diesen Fällen zutreffende Bezeichnungen.
In der Schilderung bei Lukas kann die Heilung erfolgen, als Jesus den Dämon erkennt und ihm den rechten Weg – aus dem Leib heraus – weist. Vom Dämon wird gesagt, dass er ungesühnt, unkeusch sei. Er erkennt Jesus als den Heiligen Gottes und Jesus gebietet ihm zu schweigen und auszufahren. In Folge dieses Geistgesprächs wird der Mensch gesund. Der Geist am ‚falschen Ort‘ wird erkannt und kann weichen bzw. wieder an seinen richtigen Ort innerhalb der Schöpfung gelangen.
Spirituelle Entwicklung durch aktive Selbsterkenntnis
Was im Evangelium bildhaft als „Ausfahren aus dem Leib“ geschildert wird, entspricht der Rückverlagerung von im Leib verirrter Möglichkeiten aktiver Selbsterkenntnis und Selbsterziehung, die am ‚richtigen Ort‘ – nämlich im leibfreien Denken, Fühlen und Wollen nicht aktiviert werden konnten und sich so sukzessive in den Leib projiziert haben.
In Kapitel II von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“7 wird gesagt, dass die Möglichkeit des Menschen zu erkranken mit seiner Geist- und Seelenfähigkeit zu tun hat. Das weist auf den geistigen Aspekt und die Möglichkeit von Krankheitsprävention durch spirituelle Entwicklung hin.
Vgl. „Wie sind Leib, Seele und Geist in Gesundheit und Krankheit verbunden?“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
- Neues Testament, Lukas Kap. 4, 38–39.
- Ebenda, Kap. 18, 41.
- Ebenda, Kap. 6, 20–49.
- Diese und die übrigen Stellen aus dem Neuen Testament werden nach der Übersetzung von Emil Bock (1994) zitiert.
- Siehe FN 1, Kap. 7, 6–7.
- Ebenda, Kap. 4, 31–37.
- Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.

