Unterschiedliche Sichtweisen von Krankheit
Wie schaut die Schulmedizin auf Krankheit?
Und welche Perspektive hat die Anthroposophische Medizin?
Was haben sie gemeinsam, was unterscheidet sie?
Frage nach der Ursache von Krankheit
Die Überschrift des zweiten Kapitels von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“1 ist die einzige in Form einer Frage gehaltene:
Warum erkrankt der Mensch?
Das ist aber auch die Frage, die sich fast jeder stellt, der ernsthaft erkrankt ist:
Warum ich – und warum gerade jetzt?
Was ist die Ursache, wo sind die besten Ärzte – und was kann ich selber dazu tun, um wieder gesund zu werden?
Die Antwort auf die letzte Frage wird maßgeblich mitbestimmt durch das Menschenbild der Medizin und die Weltanschauung, die jemand hat – vorausgesetzt, dass die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse eine freie Arztwahl gestatten.
Unterschiedliche Sichtweisen im Vergleich
Bezüglich möglicher Antworten stehen sich die polaren Sichtweisen und Lebenshaltungen – spirituell oder rein naturwissenschaftlich – gegenüber, mit zahlreichen Zwischenformen alternativer oder vermittelnder Art (vgl. Anthroposophische Medizin: Schulmedizin, AM und ältere ganzheitliche Ansätze).
- 1. Naturwissenschaftlich-positivistische Sichtweise
Die naturwissenschaftlich-positivistische Sichtweise sieht die Ursache einer Krankheit primär auf molekulargenetischer Ebene in einer spontan oder kausal (mögliche genetische Ursachen, Umweltgifte, psychosozialer Stress) aufgetretenen Irregularität des Zellstoffwechsels (vgl. Gesundheit: Paradigmenwechsel von Pathogenese zu Salutogenese).
- 2. Anthroposophisch-medizinische Sichtweise
Die anthroposophisch-medizinische Sichtweise ergänzt diese konventionelle Diagnostik durch die Wesensglieder-Diagnostik im Sinne von Kapitel I des genannten Werkes (vgl. Wesensglieder: Die Wesensglieder als Gesetzeszusammenhänge) und stellt auch die Frage nach der biographischen Situation des Patienten. Wenn Patienten selbst nach dem Sinn ihrer Erkrankung fragen, wird im gemeinsamen Betrachten der Entwicklungsperspektiven und der Schicksalsgegebenheiten der Betroffenen an einer möglichen Antwort gearbeitet (vgl. Biographiearbeit: Was anthroposophische Biografiearbeit vermag).
- 3. Auswirkungen auf den Patienten
Vergleicht man die beiden Perspektiven kann man etwas Interessantes bemerken:
AD 1. Je mehr man die Ursachen der Erkrankung auf externer molekular-kausaler Ebene verortet, umso mehr erlebt sich der Betroffene als Opfer seiner Zustände und gleichzeitig als abhängig vom Arzt, der ihm helfen soll.
AD 2. Je mehr man sich hingegen der eigenen Beteiligung am Geschehen bewusstwird, bis in persönliche und soziale Schicksalsfragen herein, erlebt man sich als Mitgestalter beim Gesundungsprozess und damit autonomer – auch in der Arzt-Patientenbeziehung (vgl. Anthroposophische Medizin: Förderung von Patientenkompetenz).
AD 1. + 2. Beide Sichtweisen zusammengenommen eröffnen hingegen vielseitigere und komplexere Möglichkeiten der Besserung und Heilung.
- Unterschiedliche Therapieansätze
Die therapeutischen Interventionen unterscheiden sich dadurch, dass das Spektrum der Behandlungsmöglichkeiten der integrativen und Anthroposophischen Medizin breiter gefächert und multiperspektivischer ist, als das der Schulmedizin (vgl. Anthroposophische Medizin: Anspruch und Aufgabe). Es umfasst
- neben dem Einsatz schulmedizinischer Medikamente
- die Gabe prozessorientierter anthroposophischer Arzneimittel
- diätetische Vorgaben
- pflegerische Maßnahmen wie äußere Anwendungen wie Bäder, Wickel und Auflagen
- künstlerische Therapieformen
- und, so gewünscht, spezifische Krankenmeditationen2
Dem Kranken in allen Wesensäußerungen gerecht werden
Der als Mitbegründer von „Ärzte gegen den Atomkrieg“ und Friedensnobelpreisträger bekannt gewordene Bernard Lown (1921–2021) empfand die Notwendigkeit, dem Kranken in all seinen Wesensäußerungen gerecht zu werden, auch wenn er therapeutisch ganz auf dem Boden der Schulmedizin stand. Er schrieb in seiner Heilkunst: „Patricia lehrte mich, dass jeder einzelne Patient eine statistische Ausnahme ist.“3 Sein ärztliches Engagement war darauf gerichtet, dem Kranken in seiner schwierigen Situation von Mensch zu Mensch zu begegnen und ihm dabei seine Selbstbestimmung und Würde zu Bewusstsein zu bringen.
Weder im Bereich der Schulmedizin noch in der Anthroposophischen Medizin geht es bei der Sinnfrage um ‚Schuld‘ oder gar moralische Verfehlung, sondern um Heilung. Dier Heilungsprozess schließt individuelle Lernprozesse und das Übernehmen von Verantwortung in dem Maß, wie sich der Kranke das selber klar machen kann oder will, ein.
Diese Haltung spricht auch aus der Art und Weise, wie Rudolf Steiner und Ita Wegman sich ihren Patienten gegenüber verhielten. Da fällt kein moralisierendes Wort, vielmehr ist ihr ganzes Bemühen um Heilung eine Dienstleistung am Betroffenen. Für Rudolf Steiner galt: Der Sinn der Krankheit ist die Heilung.4 Der Heilung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu dienen, sei die Aufgabe des Arztes und Therapeuten. Wenn Menschen jedoch Fragen stellten nach möglichen Ursachen oder einem Eigenanteil am Geschehen, bekamen sie klare Antworten und damit Hilfe zur Selbsthilfe: In dem Maß, in dem sie die Ursachen erkennen konnten, waren sie in der Lage, weiteren möglichen Schädigungen vorzubeugen.
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 20255
- Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27, Kapitel 2.
- Vgl. Glöckler (2021), Selg (2017; 2019a,b).
- Lown (2015), 307.
- Rudolf Steiner, Metamorphosen des Seelenlebens. Pfade der Seelenerlebnisse. Zweiter Teil, GA 59, S. 170.
- In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.