Wesensgliederdiagnose bei charakteristischen Krankheitsfällen
Welche charakteristischen Krankheitsfälle beschreiben die Autoren in Kapitel XIX von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“1?
Inwiefern gibt die Wesensgliederdiagnose Aufschluss über die Konstitution der Patienten (vgl. Anthroposophische Medizin: Parameter der Wesensgliederdiagnostik)?
Welche Rolle spielt sie bei der Therapiefindung?
Hierarchische Ordnung der Wesensglieder
Das Zusammenwirken der Wesensglieder ist nach anthroposophischer Vorstellung hierarchisch geordnet (vgl. Wesensglieder: Wechselwirkungen der Wesensglieder aufeinander): Beim gesunden Menschen ist der ganze Körper bis in die letzten Zellstrukturen ein Ergebnis der ganzheitlich gestaltenden Kräfte der Ich-Organisation. Diese durchgreifende Gestaltung ist aber nur möglich, wenn die astralische Organisation beweglich und kräftig genug ist, die Wärmeimpulse der Ich-Organisation in die ihm eigenen Luftstrukturen und Bewegungsdynamiken aufzunehmen und so auf die ätherische Organisation zu übertragen, so dass diese ihre Aufgabe in den biochemischen Prozessen des wässrigen Körpermilieus infolge dieser Anregungen optimal erfüllen kann. Gelingt dies, ist physische Gesundheit die Folge und die Organe sind voll funktionstüchtig und gut ausgebildet.
Ist nun eines dieser Wesensglieder geschwächt oder gegenüber den anderen zu stark in seiner Aktivität, kommt das ganze System, d.h. die menschliche Konstitution, in einen labilen Zustand, in dessen Folge sich auch einer der im Folgenden geschilderten Krankheitsprozesse entwickeln kann.
A SKLEROSE
- Erscheinungsbild und Symptome
Unter Sklerose wird eine Vielzahl von Krankheitsbildern zusammengefasst, denen gemeinsam ist, dass Ablagerungs- und Verhärtungsprozesse in den betroffenen Strukturen und Organen stattfinden, die entweder auf Entzündungen oder degenerative Alterungsprozesse und Vermehrung bindegewebiger Strukturen (Kollagenbildung) zurückgehen.
Was im Einzelnen die sklerotischen Prozesse einleitet, ist derzeit noch nicht zureichend geklärt. Fakt ist jedoch, dass Lebensstil, Essgewohnheiten, Übergewicht, Bewegungsmangel, Stress, Schlafmangel und andere Begleiterscheinungen des modernen Lebens nicht unwesentlich zu ihrem Entstehen beitragen.
- Wesensgliederdiagnose
Die Wesensgliederdiagnose der 61jährigen Patientin in Kapitel XIX von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“2 ergibt „eine Übertätigkeit des Astralleibes, […] die vom physischen und Ätherleibe nicht resorbiert wird. Eine normale feste Haltung der menschlichen Organisation ist nur möglich, wenn diese Resorption eine vollständige ist.“3 Die klinischen Symptome stützen diese Sicht.
- Therapie
Die sich daraus ergebende Therapie umfasst primär das Skleron, das die Eingliederung des übertätigen Astralleibes in die Gesamtkonstitution befördern soll. Warum ihm diese Wirkung zugeschrieben werden kann, wird im folgenden Kapitel eingehend erläutert. Zusätzlich werden verschiedene, auf die Symptome abgestimmte Arzneimittel, äußere Anwendungen, Klistiere.
Es geht hier nicht um die Wiedergabe einer Verlaufsdokumentation, sondern wie es die Überschrift des Kapitels klarstellt: um charakteristische Krankheitsfälle. D.h. es geht darum, anhand bestimmter am Einzelfall abgelesener Wesensglieder-Diagnosen Einblick zu geben in die anthroposophische Diagnostik und die Therapiefindung einer ‚typischen‘ Krankheit.
B STRUMA
- Erscheinungsbild und Symptome
Die Struma (der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Drüsenschwellung oder Geschwulst bzw. ‚Kropf‘) ist in Jodmangelgebieten endemisch, d.h. sehr häufig und geht von geringfügig bis zum ausgeprägten ‚Kropf‘, der – so er mit Beschwerden verbunden ist – auch operationsbedürftig werden kann. Wichtig ist aber auch hier zu konstatieren, dass die Struma in Jodmangelgebieten nur bei ca. 30 % der Bevölkerung auftritt.4 Das bedeutet zugleich, dass 70 % der dort lebenden Menschen keine Struma entwickeln. Auch hier kommt es auf einen disponierenden Faktor an, den die Autoren als typisch im Wesensgliedergefüge der betroffenen Menschen – überwiegend Frauen – feststellen.
- Wesensgliederdiagnose
Bei der Patientin, die im 34. Lebensjahr zur Behandlung kommt, ergibt die geisteswissenschaftliche Diagnose eine „hochgradige Atonie des Astralleibes. Dadurch ist die Ich-Organisation vom physischen und Ätherleib zurückgestaut“.5
- Therapie
Die Patientin wurde vom Spätherbst 1923 bis zum Januar 1924 mit Colchicum behandelt. Der Rückgang der Geschwulst nach zwei Monaten Behandlung ist klar dokumentiert. Die Colchicum-Behandlung wurde seither von vielen anthroposophischen Ärzten mit Erfolg eingesetzt.6 Friedwart Huseman in hat in seinem Buch über Anthroposophische Medizin das Wirkprinzip der Giftpflanze Colchicum autumnale in meisterlicher Kürze so charakterisiert:
„Die Blätter lassen im Frühling eine unterirdische große Knolle heranwachsen, die eine zweite kleine Knolle für die Blüten im Herbst unterhält. Gleichzeitig wird die Entwicklung der zu dieser zweiten Knolle gehörenden Blätter und Früchte gehemmt, sodass im Herbst aus der kleinen Knolle nur die Blüte erscheint. Die zu dieser Blüte gehörenden Blätter und Früchte kommen erst im nächsten Frühling heraus und tragen dann zur Vergrößerung der zu ihnen gehörenden Knolle bei. Die Knollen verbinden also ein die Jahresgenerationen überbrückendes Prinzip mit einem das Wachstum hemmenden Prinzip.“7
C HEUFIEBER
- Erscheinungsbild und Symptome
- Therapie
Der betroffene Patient im Kapitel XIX kommt im Alter von 40 Jahren, leidet aber schon seit seiner Kindheit daran, was typisch ist. Das dafür entwickelte anthroposophische Arzneimittel Gencydo konnte hier erfolgreich zur Anwendung gebracht werden und wird auch in Kapitel XX von „Grundlegendes…“ bezüglich seiner Wirkungsweise eingehend erläutert. In diesem Kontext ist aber auch interessant, dass Alm/Swartz in einer im Lancet publizierten Pilotstudie in Schweden nachweisen konnten, dass Schüler an Waldorfschulen signifikant weniger Allergien aufweisen als solche an öffentlichen Schulen. Dies wurde in einer multizentrischen Folgestudie weiter untersucht (PARSIFAL Study). Auch wenn diese unter weniger idealen Vergleichsbedingungen stattfand als die schwedische Studie, konnte doch gezeigt werden: An Waldorfschulen hatten die Kinder gegenüber denen, welche öffentliche Schulen in der Stadt und in ländlichen Gebieten besuchten, die geringste Allergie-Bereitschaft und das – erstaunlicherweise – obwohl die familiäre Belastung der Kinder an Waldorfschulen höher war, als die der beiden Vergleichsgruppen.9
Folgestudien auf noch breiterer Basis wären sehr erwünscht. Sie könnten zeigen, dass auf epigenetischen Wegen eine gesundheitsfördernde Erziehung einer bestehenden erblichen Belastung positiv entgegenwirken kann (vgl. Immunsystem und Immunisierung: Denken, Fühlen, Wollen und Immunsystem).
D MIGRÄNEARTIGE ZUSTÄNDE IM KLIMAKTERIUM
- Erscheinungsbild und Symptome
Bei manchen Frauen beginnen die sogenannten Wechseljahre des Klimakteriums bereits mit 40 Jahren, bei anderen erst Mitte 50. Spätestens mit 60 Jahren haben Frauen die Wechseljahre in der Regel hinter sich und der Körper hat wieder gelernt, mit einem niedrigeren Hormonspiegel im Blut zu leben – so wie das vor Einsetzen der Pubertät der Fall war. Wenn jedoch die Eierstöcke operativ entfernt werden müssen, setzt das Klimakterium unmittelbar und damit ‚schockartig‘ ein.
Bei der Patientin in Kapitel XIX, die sich im Alter von 55 Jahren erstmals vorstellt, handelt es sich um ein komplexes Krankheitsgeschehen, in dem eine konstitutionelle Schwäche schon als Kind (zart und schwächlich), schmerzhafte Periodenblutungen, eine operative Entfernung des Uterus im 40. Lebensjahr mit dadurch jäh einsetzenden Wechseljahresbeschwerden zu berücksichtigen sind. Leitsymptom, das zur Behandlung führt, ist jedoch die Kopfschmerzproblematik, die im 46. Lebensjahr „zu einer drei Tage dauernden, mit Bewusstlosigkeit verbundenen Kopfkrankheit“10 geführt hat.
- Wesensgliederdiagnose
Wesensgliederdiagnostisch wurde eine „allgemeine Schwäche der Ich-Organisation“ festgestellt. Wird die Vitalität des Ätherleibes durch die Ich-Organisation nicht genügend abgelähmt, können sich vegetativ-organische Tätigkeiten ungehindert ausbreiten, auch über das Kopf- und Nerven-Sinnessystem. Der starke Urindrang „rührt davon her, dass dem normal entwickelten Astralleib, welcher die Nierenabsonderung regelt, keine sie normal zurückhaltende, genügend starke Ich-Organisation gegenübersteht. Ein zweites Symptom ist das späte Einschlafen und das müde Aufwachen. Der Astralleib geht schwer aus dem physischen und Ätherleibe heraus, weil das Ich ihn nicht genügend stark herauszieht [aus dem physischen Leib, M.G.]“11
- Therapie
Die ganze Therapie galt dem Ziel, die diagnostisch festgestellte „allgemeine Schwäche der Ich-Organisation“ soweit wie möglich zu beheben. Alle Krankheitssymptome, unter denen die Patientin leidet, werden unter diesem Aspekt interpretiert.
Deshalb kommt nicht das Migränemittel Biodoron als typisches Arzneimittel für die klassische Migräne zum Einsatz. Vielmehr lassen sich die Symptome erst bessern, nachdem eine Potentilla-Tormentilla (Blutwurz, eine Rosacee) – Behandlung begonnen wurde. So ist diese Krankengeschichte zugleich auch ein eindrückliches Beispiel dafür, dass auch typische Krankheiten bisweilen einer individuellen Therapiefindung bedürfen: „Wir versuchten zunächst Besserung zu erzielen mit Antimon. Dasselbe hätte die Besserung erzeugen müssen, wenn der allgemeine, unter der Regulierung der Ich-Organisation stehende Stoffwechsel in Betracht gekommen wäre. Die Besserung wurde dadurch nicht erzielt. Es war dadurch der Beweis gebracht, dass der relativ selbständige Teil der Ich-Organisation, der vorzüglich die Fortpflanzungsorgane reguliert, in Betracht kommt. Dafür sehen wir in der Wurzel der Potentilla-Tormentilla bei sehr starker Verdünnung ein Spezifikum, und in der Tat, dies wirkte.“12
Die Blutwurz ist eine in der Volksmedizin und Pflanzenheilkunde bekannte und vielfach bewährte Arzneipflanze. Ihr Wurzelstock enthält Gerbstoffe, Glykoside, den Tormentillrot-Farbstoff und Säuren. Ihre zusammenziehende (adstringierende), entzündungshemmende, blut- und krampfstillende sowie stopfende (Darm)Wirkung ist bei Entzündungen im Mund- und Rachenraum, bei Magen-Darm-Beschwerden (Blähungen, Durchfallerkrankungen, Kolitis) sowie bei chronischer Bronchitis, Gelbsucht, Ekzemen, Parasitenbefall und eben auch bei starker Menstruationsblutung positiv bekannt.
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 202513
- Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
- Ebenda, Kap. XIX.
- Ebenda, S. 108.
- Siehe FN 1, S. 110.
- Siehe z. B. https://deximed.de/home/klinische-themen/endokrinologie-stoffwechsel/krankheiten/schilddruesenerkrankungen/knotenstruma; [6.1.2025].
- Siehe F. Husemann, Anthroposophische Medizin, 2011b, S. 138 und 147–150.
- Ebd., 132–136.
- Siehe die SAPAL-DIA-II-Studie (Swiss Study on Air Pollution and Lung Diseases in Adults): Schmid-Grendelmeier (2009), 7–10.
- Siehe Alm und Swartz (1999), 1485–1488; Flöistrup u. a. (2006), 59–66 und Schram (2005), 611–618 und 1272–1278.
- Siehe FN 1, S. 112.
- Ebenda.
- Siehe FN 1, S. 114.
- In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

