Geborgen im eigenen Schicksal

Welche Bedeutung kommt dem Zufall im Schicksalskontext zu?

Wie sieht Rudolf Steiner das sogenannte „Zufällige“ im Menschenleben?

Welche Konsequenzen hat dieser Blick für den Umgang mit dem eigenen Schicksal?

Voraussetzungen für Geborgenheit im eigenen Schicksal

Die Tatsache, dass Viktor Frankl nach den menschenverachtenden Erlebnissen im Konzentrationslager ein Buch schreiben konnte mit dem Titel „Trotzdem Ja zum Leben sagen,“1 lässt erahnen, dass er sich dank einer höheren Gerechtigkeit in seinem Leben geborgen fühlte, dass er seiner Schicksalsführung vertraute.

Diese Schicksalsführung auch in schweren Stunden zu erkennen und für die vielen Glücksmomente zu danken, die das Leben vor und nach einem Schicksalsschlag oder einer traumatisierenden Erfahrung bereithielt, hilft, die gesamte biografische Entwicklung in einem neuen Kontext zu sehen. Man entwickelt einen wachen Blick dafür, wie sich die Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft gestaltet und erkennt zunehmend, welche Rolle man selbst darin gespielt hat und fortwährend spielt.

Unser Anteil an dem, was uns zustößt

Rudolf Steiner bemerkt hierzu in der Theosophie: „Etwas ‚stößt‘ dem Menschen zu. Er ist wohl zunächst geneigt, ein solch ‚Zustoßendes‘ wie ein ‚zufällig‘ in sein Leben Eintretendes zu betrachten. Allein er kann gewahr werden, wie er selbst das Ergebnis solcher ‚Zufälle‘ ist. Wer sich in seinem vierzigsten Lebensjahr betrachtet und mit der Frage nach seinem Seelenwesen nicht bei einer wesenlos abstrakten Ich-Vorstellung stehen bleiben will, der darf sich sagen: Ich bin ja gar nichts anderes, als was ich geworden bin durch dasjenige, was mir bis heute schicksalsmäßig ‚zugestoßen‘ ist. Wäre ich nicht ein anderer, wenn ich zum Beispiel mit zwanzig Jahren eine bestimmte Reihe von Erlebnissen gehabt hätte statt derjenigen, die mich getroffen haben? Er wird dann sein ‚Ich‘ nicht nur in seinen ‚von innen‘ herauskommenden Entwicklungsimpulsen suchen, sondern in dem, was ‚von außen‘ gestaltend in sein Leben eingreift. In dem, was ihm geschieht, wird er das eigene Ich erkennen. Gibt man sich solch einer Erkenntnis unbefangen hin, dann ist nur ein weiterer Schritt wirklich intimer Beobachtung des Lebens dazu nötig, um in dem, was einem durch gewisse Schicksalserlebnisse zufließt, etwas zu sehen, was das Ich von außen so ergreift, wie die Erinnerung von innen wirkt, um ein vergangenes Erlebnis wieder aufleuchten zu lassen. Man kann sich so geeignet dazu machen, in dem Schicksalserlebnis wahrzunehmen, wie eine frühere Tat der Seele den Weg zu dem Ich nimmt, so wie in der Erinnerung ein früheres Erlebnis den Weg zur Vorstellung nimmt, wenn eine äußere Veranlassung dazu da ist.“2

Schicksalswirken in mehreren Dimensionen

Rudolf Steiners Schicksalsbegriff umfasst

  • das persönliche Karma

  • aber auch das Gruppenschicksal der Familie, des Volkes oder der Religionsgemeinschaft, in die man sich hineinverkörpert oder an die man sich angeschlossen hat.

  • Darüber hinaus aber identifizieren sich immer mehr Menschen – insbesondere junge und nicht nur große Geister wie Goethe oder Novalis − mit dem großen Schicksalszusammenhang der Menschheit als ganzer und ihrem Entwicklungsweg durch die Jahrtausende (vgl. Christus heute: Christusbewusstsein entwickeln lernen).

Aus einer solchen Perspektive ergeben sich Lernprozesse und Aufwachmomente für das Bewusstsein, die die Grenzen des Persönlichen weit übersteigen und in Erlebnisdimensionen führen, wie sie dann auch in Werken wie dem von Viktor Frankl, Hans Jonas, Hanna Ahrendt oder Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“ oder Goethes „Faust“ zum Ausdruck kommen.

In den menschlichen Taten lebt sich aus, was im Einzelnen, aber auch in Menschengemeinschaften, an Liebe und Hass, an Verständnis und Unverständnis, an Engagement oder Gleichgültigkeit lebt. Und wenn der Mensch stirbt, so leben doch die Wirkungen seiner Taten fort. Sich davon zu distanzieren, ist ebenso verantwortungslos, wie solche Wirkungen dem Zufall zuzuschreiben. Beides wird den individuellen Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Schicksals nicht gerecht.

Wesenskern und Persönlichkeit unterscheiden

Diese können noch bewusster be- und ergriffen werden, wenn man unter diesem Schicksalsaspekt die jeweilige Persönlichkeit und den wahren Wesenskern, das Ich des Menschen, differenzieren lernt:

Wer ist es, der sich in der jeweiligen Verkörperung neu formt?

Und was ist das ewig Gleichbleibende des Menschen?

Indem der menschliche Wesenskern (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit), das „Ich“, durch wiederholte Erdenleben geht und damit auch durch verschiedene Hautfarben, Erdgegenden, in denen er sich beheimatet, sowie durch bestimmte Sprach- und Religionszusammenhänge, so wird sich die Persönlichkeit aus den jeweiligen Schicksalsgegebenheiten heraus jedes Mal neu formen. Es ist immer dasselbe Ich, welches im Sinne des Wortes „per-sonare“ „hindurch-tönt“. In jeder Verkörperung lernt sich dieses Ich unter den gegebenen neuen Verhältnissen intimer kennen¬. Von Erdenleben zu Erdenleben reifen Selbsterkenntnis, kulturelles Verständnis und damit auch Umweltverständnis.3

Durch die Möglichkeit, das Schicksal der Vergangenheit erkenntnisbringend zu verarbeiten und proaktiv Positives für die Zukunft zu veranlagen, verliert der Schicksalsbegriff seinen fatalistisch-deterministischen Charakter (vgl. Identität und Ich: Identifikation und Schicksal). Denn es ist das vorgeburtlich existente Menschenwesen selbst, das aktiv bei der Auswahl der genetischen Grundausstattung, die für seine neue Verkörperung wichtig ist, mitwirkt. Das Gleiche gilt für die Wahl der Eltern und der das Schicksal bestimmenden Umweltfaktoren. Dieses ewige Selbst von den persönlichen Manifestationen in den jeweiligen Biografien unterscheiden zu lernen, ist von entscheidender Bedeutung und kann zu einer tiefen inneren Ruhe führen und zur Kraftquelle werden im Auf und Ab des täglichen Lebens.

Vgl. Broschüre „Medizinische Aspekte der Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“

  1. Viktor E. Frankl, Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München 2018.
  2. Rudolf Steiner, Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung, GA 9, Dornach 1990, Seite 83f in der Taschenbuchausgabe.
  3. Michaela Glöckler, Begabung und Behinderung. Praktische Hinweise für Erziehungs- und Schicksalsfragen, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004.