Vorchristliche Wege und christlicher Schulungsweg
Was unterscheidet die vorchristlichen und christlichen Schulungswege?
Welche Rolle spielen Denken und Freiheit in der Geschichte der Spiritualität?
Inwiefern spielt lebendiges Denken eine zentrale Rolle im christlichen Schulungsweg?
Unfreiheit anstelle eigenständigen Denkens
Die vorchristlichen Schulungswege sind auch heute für viele Menschen immer noch faszinierend, weil sie nur vom Guten handeln. Sie fordern, dass das individuelle Denken ausgeschaltet wird, weil es mit dem niederen Ego in Verbindung gebracht wird, das alle Probleme verursacht. Es soll ausgeschaltet werden nach dem Motto: „Macht euch frei und rein nur für das Gute!“.
Es gibt Meditationen von großen Meistern, die den Anschluss an das Gute fördern. Dabei kann der Schüler sich entspannen und eine gesunde Identität entwickeln. Die Meditationen sollen dafür sorgen, dass das Niedere immer weniger wird. Das ist nicht falsch. Aber wir müssen uns klarmachen, dass das nicht alles ist.
Wenn ich mein individuelles Denken ausschalte, schalte ich auch meine Freiheitskompetenz als Individuum aus (vgl. Geist und geistiges Wesen: Geistige Dimension als Ressource). Ich brauche dann einen spirituellen Lehrer, der an die Stelle meines eigenen Denkens tritt, der mich führt und kontrolliert, ob ich etwas falsch mache, zu dem ich hingehen kann, wenn ich ein Problem habe. Das war das Normale in der vorchristlichen Zeit. Diese Rolle hatte meistens das Familienoberhaupt oder der Priester im Stamm inne oder große Meister und Lehrer des Volkes und ihre Schüler, die Mönche.
Unterschied zwischen Guru und christlichem Lehrer-Prinzip
Was kennzeichnet einen Guru?
Zum Guru wird jemand in dem Moment, in dem er andere Menschen nicht mehr nur esoterisch berät, sondern Schüler von seinen Weisheitsaussagen abhängig werden und er ihnen Dinge verkündet, auf die sie selbst nicht gekommen wären. Rudolf Steiner sagt, es wäre wesentlich, dass der Suchende, das, was er an Erkenntnissen sucht, aus eigenen Kräften findet und es ihm nicht wie mitgeteilt wird.
Der christliche Lehrer gibt Hilfe zur Selbsthilfe, sitzt aber nicht sichtbar in der Mitte als Inspirationszentrum und die Schüler sitzen in einer Spirale und man meditiert gemeinsam und er empfängt die Erleuchtung und bringt sie wieder zurück. Das ist eine okkulte Geste, die alte Art geistiger Lehrer zu sein. Das bezeichnet man mit dem Namen Guru. Wenn der Betreffende sich auch noch so fühlt und die anderen sich als Schüler erleben, dann ist es perfekt.
Je mehr ein Mensch sich noch nach einem Gruppen-Ich sehnt, nach einem nicht individuellen Ich, nach einer Identität, die ihn mit einem guten Zusammenhang verbindet, nach einer spirituellen Gemeinschaft, nach einer familiären Gemeinschaft, nach Volksgewohnheiten, passt er sich an etwas an, das er nicht selbst bestimmt hat. Er unterwirft sich damit einem kollektiven Bewusstsein. Das sollte man wissen, wenn man es tut.
Dieser Weg ist für viele Menschen ein Segen, weil er ihnen vorübergehend hilft, das Destruktive in sich zu vernachlässigen. Damit stehen sie aber gleichzeitig wie auf einem Parkplatz der Individualisierung. Sie gehen im Grunde zurück in vorchristliche Gewohnheiten. Damit sage ich nicht, dass das falsch ist, aber es ist anders, als wenn man das Destruktive im Prozess der Individualisierung integriert und als Teil der eigenen Identität erkennt.
Soziale Spielregeln anstelle von Freiheit
Der vorchristliche Weg braucht keine Freiheit für die Identitätsbildung.
Wohingegen die Freiheit auf dem christlichen Weg eine wesentliche Dimension der individuellen Identitätsbildung darstellt.
Interessant ist, dass alle vorchristlichen spirituellen Wege von Wahrheit, Mitleid und Liebe sprechen. Die Wahrheit spielt eine zentrale Rolle, weil Gott mit der Wahrheit identifiziert wird. Für das menschliche soziale Leben braucht man Mitleid und Liebe. Von Freiheit wird nicht gesprochen. An der Stelle von Freiheit stehen klare soziale Spielregeln, an die man sich anpassen muss, da ist kein Spielraum für individuelle Freiheit.
In China ist das heute noch so. Es gibt martialische Strafen, wenn irgendjemand gegen die kollektiven Werte verstößt und zwar nicht, weil die Chinesen keinen Sinn für Menschenrechte haben, – das behaupten nur wir – sondern weil ihnen eine Spiritualität eigen ist, die nur an das Gute glaubt und alles Schlechte als Irrtum auffasst, der ausgemerzt werden muss. Das Böse wird als Irrtum angesehen, der Mensch habe gut zu sein.
Drei menschheitsgeschichtliche Zugänge zum inneren Schulungsweg
- 1. Der magisch-rituelle Zugang über den Willen
Der älteste Weg geht über den Willen und ist magisch-rituell. Südamerika ist Heimat und Ursprung davon, aber auch der Teil im Pazifik, von dem die Indianer ursprünglich stammen, die wunderbare polynesische Inselwelt. Amerika ist ein junger Kontinent, in den alle Menschen erst eingewandert sind. Der pazifische Raum dagegen mit Australien, China und Indien ist viel älter. Da kommen all die Völkern her, die in ihren Tempeln magisch-rituelle Heilungen mit Tänzen, Riten und Ritualen vollziehen. Damit verbunden ist auch der Verzehr von bestimmten Nahrungsmitteln, von Tieropfern, Fruchtopfern und Pflanzenopfern. All dies geschieht nicht aus einem klaren Bewusstseinszustand heraus, sondern aufgrund einer großen Machtentfaltung, die direkt vom Willen ausgeht.
Alle Überlieferungen von Hexen und Zauberern, auch in den europäischen Sagen und Märchen, haben dort ihre Wurzeln. In vielen Filmen unserer Zeit ersteht das alles wieder. Das Wissen darum ist nicht vergessen, es rumort tief im Unbewussten und kommt in der Kunst, aber vor allem auch in rituellen Gemeinschaften, immer wieder in der einen oder anderen Form zum Ausdruck.
- 2. Esoterisch-meditativer Zugang über die Sprache
Eine zweite große kulturgeschichtliche Epoche beginnt mit der Tradition der „Veden“ in Indien, als man anfing, bewusst die Sprache zu meditieren, allen voran heilige Silben wie das „OM“, das älteste Mantra der Welt. Viele Atem- und Yogaübungen aus diesen Traditionen haben sich bis heute erhalten und wurden durch den Buddhismus noch vertieft.
All diesen esoterischen Meditationstechniken, die an die Sprache, den Atem oder bestimmte Körperstellungen anknüpfen, ist gemeinsam, dass sie ganz bewusst auf das Denken verzichten.
- 3. Bewusster Zugang über das Denken
Erst mit der Niederschrift der Evangelien wurde das Reich Gottes überhaupt dem Denken zugänglich. Jetzt heißt es: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“1 Gott will nicht draußen in der Natur angebetet werden, sondern im Geist und in der Wahrheit des Inneren. Die Wahrheit kann ausschließlich über das Denken individuell erkannt werden. Nur im Denken kann ich entscheiden, ob ich etwas für wahrhalte oder nicht. Wir neigen dazu, unserem Gefühl blind zu glauben – was eine Quelle vieler Irrtümer im Sozialen ist (vgl. Soziales Leben und soziale Dreigliederung: Sozialimpuls aus dem Astralischen). Echte Wahrheitsfindung ist nur über das Denken möglich.
Novalis hat das so ausgedrückt: „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg, in uns ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und die Zukunft“. Laut Novalis hat die Ewigkeit viele Welten. So wie jeder von uns in seiner Welt lebt und Mühe hat, den anderen zu verstehen, so war Novalis sich bewusst, dass man, wenn man die spirituelle Ebene betritt, viele Welten vorfindet. Diese können nur durch die ernsthafte Suche nach Wahrheit eingeordnet und integriert werden.
Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010
- Neues Testament, Johannes 4, 24.