Begabungen des Ätherleibes

Laut Rudolf Steiner umfasst der Lebens- bzw. Ätherleib alle Gesetzmäßigkeiten, die in der Lage sind, tote Materie am Leben – im Lebenszusammenhang – zu erhalten (vgl. Mut: Der ätherische Leib als Quelle von Mut ).1 Der Begriff „Leib“ steht für den Funktionszusammenhang des Lebendigen, Belebenden. Das Wort „Äther“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „himmelblau“ bzw. „blauer Himmel“, „Firmament“.

Diese Wortkombination macht Sinn, weil das blaue Himmelslicht, der von der Sonne erhellte Himmelsraum, die Pflanzenwelt mit Energie versorgt, durch die sie Blattgrün, das Chlorophyll, bilden kann. So wie die Pflanze nur dank dieser Verbindung mit dem Kosmos und der Sonne leben kann, so verfügt auch der Mensch, dem die Pflanzenwelt als Nahrung dient, über einen in sich geschlossenen individualisierten Lebensorganismus.

Die Tätigkeit des Ätherleibes im menschlichen Organismus ist polar orientiert:

  • Ein Teil dient am Lebensanfang vor allem dem Wachstum und später der Regeneration des physischen Leibes.

  • Der andere Teil löst sich von Anfang an im Laufe der Entwicklung bzw. später im Zuge des Alterungsprozesses (vgl. Wesensglieder: Die Metamorphose der Wesensglieder in leibfreies Denken, Fühlen Und Wollen) in dem Maße aus der Leibgebundenheit heraus, in dem Wachstums- und Reifungsschritte vollendet wurden und diese Lebenskräfte nicht mehr für Wachstum oder Regeneration gebraucht werden: Sie verlassen den physischen Leib und ermöglichen ein sich lebenslang entwickelndes Gedankenleben.

Diese bahnbrechende Einsicht in den Leib-Seele-Zusammenhang verdanken wir Rudolf Steiner: Er entdeckte die Doppelfunktion des Ätherischen und damit den Schlüssel, wieso und inwiefern das Gedanken- und Geistesleben des Menschen Einfluss hat auf die körperliche Gesundheit (vgl. Gesundheit: Gesundheit und Denken).

Was den Ätherleib stärkt

Gedächtnisschwächen sind Willensschwächen im Gedankenleben. Sie können positiv beeinflusst werden durch Aufmerksamkeitsübungen:

Man kann z.B. allein oder mit einem Kind zusammen konzentriert ein Ding, einen Vorgang oder ein Lebewesen beobachten, es von allen Seiten betrachten und mit Hilfe der Sinne als Wahrnehmungsinhalt aufnehmen und einprägen (vgl. Gefühle und Fühlen: Gefühl und Wahrnehmung). Oder man legt gemeinsam etwas an einen bestimmten Ort, den man sich genau anschaut und merkt – das stärkt die Erinnerungsfähigkeit daran, wo man etwas hingelegt hat.

Ein wichtiges Stärkungsmittel für den Ätherleib sind gute Gewohnheiten: regelmäßige Essens- und Schlafenszeiten, Wechsel von Arbeit und Spiel etc. (vgl. Lebensrhythmen: Pflege von Lebensrhythmen in der Kindheit). Alles, was mit Rhythmus und Regelmäßigkeit zusammenhängt, ist ätherisches Gebiet – denn „Rhythmus trägt Leben“, wie sich Rudolf Steiner einmal dem Chemiker Rudolf Hauschka gegenüber ausdrückte2.

Daher ist auch regelmäßiges Üben, wie es beim künstlerischen Tun üblich ist, so gesundend. Das gilt auch für regelmäßiges kontemplatives oder religiöses Üben wie Beten, abendliche Rückschau auf den Tag und das Üben von Qualitäten wie Dankbarkeit, Andacht, Ehrfurcht, Zufriedenheit, Friedensfähigkeit.

Auch das Auf-sich-wirken-Lassen von „Ganzheiten“ – wie schöne Landschaften, Bildwerke, Musikstücke – stärkt den Lebenszusammenhang des Ätherleibes. Besonders wichtig ist jedoch ein soziales Klima der Wahrhaftigkeit (vgl. Beziehung(sfähigkeit): Wahrheit als Wirklichkeit in der Beziehung). Denn im Kontext der sorgfältig aufeinander abgestimmten Lebensfunktionen zieht jede Störung der „Stimmigkeit“ und des aufeinander Abgestimmt-Seins funktionelle Störungen nach sich, die sich im Laufe der Zeit zunehmend bemerkbar machen.

Nicht nur der lebendige Körper braucht Pflege. Auch der Gedankenorganismus bedarf der Pflege durch übereinstimmende Gedanken, Integrität, Transparenz und Wahrhaftigkeit.

Was den Ätherleib schwächt

Verlogenheit, Argwohn und Zweifel zehren an den ätherischen Kräften und untergraben den Lebenszusammenhang und das Zusammenstimmen der Lebensfunktionen.

Inkohärentes Denken schädigt den physischen Leib während der Nacht, wenn der bei Tag leibfreie Ätherleib sich im Schlaf wieder mit dem leibgebundenen Anteil verbindet, um an der Regeneration des Leibes zu arbeiten. Dann teilen sich Schädigungen, die der tagsüber dem Denken dienende ätherische Organismus erfahren hat, unmittelbar dem physischen Leib mit. Am nächsten Morgen ist der Erfrischung eine leise Kränkung beigemischt. Setzen sich solche destruktiven Einflüsse über Jahre hinweg fort, kann das noch in diesem Erdenleben zur Ausbildung einer Krankheit führen. Wenn der Ätherleib über viel Überschusskraft verfügt, kommt es erst im nächsten Erdenleben zu Krankheitsdispositionen (vgl. Begabung und Behinderung: Wirken der Wesensglieder in aufeinanderfolgenden Erdenleben ).

Pflege der ätherischen Kräfte und Monatstugenden

Zur Pflege der ätherischen Kräfte des Erwachsenen kann die Arbeit an den sogenannten Monatstugenden eine große Hilfe sein. 3 Das stößt neue Gewohnheiten und eine Gesinnung der Wahrhaftigkeit, Liebe und Großzügigkeit an. Die Tugenden werden jeweils einen Monat lang geübt – denn der Vier-Wochen-Rhythmus stärkt die ätherischen Kräftezusammenhänge (vgl. Lebensrhythmen: Innere Pflege von Wochen-, Monats- und Jahresrhythmus). Rudolf Steiner empfiehlt, diese Monatstugenden regelmäßig zu üben und darauf zu achten, wie sich dabei die jeweilige Tugend vertieft, aber auch verwandelt und zu einer neuen Tugend wird, die dann ganz das Ergebnis der eigenen Arbeit an der ersten ist:

Diese Monatstugenden sind:

April Ehrfurcht wird zu Opferkraft
Mai Inneres Gleichgewicht wird zu Fortschritt
Juni Ausdauer wird zu Treue
Juli Selbstlosigkeit wird zu Katharsis
August Mitleid wird zu Freiheit
September Höflichkeit wird zu Herzenstakt
Oktober Zufriedenheit wird zu Gelassenheit
November Geduld wird zu Einsicht
Dezember Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden
Januar Mut wird zu Erlöserkraft
Februar Diskretion wird zu Meditationskraft
März Großmut wird zu Liebe

Dies mag auf Anhieb etwas kompliziert klingen, hängt jedoch mit unserer Ich-Natur zusammen: Die erstgenannten Tugenden sind gleichsam in unserer allgemeinmenschlichen Konstitution veranlagt. Jeder Mensch kann die Ansätze dazu bei sich entdecken und darauf aufbauend mit dem Üben beginnen. Die zweitgenannten Tugenden ergeben sich erst aus der Arbeit an den erstgenannten. Das Bemerkenswerte ist, dass sie sich nur entwickeln, wenn man die erstgenannten Tugenden um ihrer selbst willen übt, aus Liebe dazu und zur Menschwerdung überhaupt – also nicht nur, um im Leben mehr Erfolg zu haben und „Charakterstärke“ zu besitzen.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 8. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004

  1. Rudolf Steiner, Theosophie. GA 9.
  2. vgl. Rudolf Hauschka, Wetterleuchten einer Zeitenwende. Bad Boll 1997.
  3. Rudolf Steiner, Anweisungen für eine esoterische Schulung. GA 245, vergriffen. Neu in: Seelenübungen mit Wort- und Sinnbildmeditationen. GA 267, Dornach 1997.