Wahrheit und Wesensglieder
In welchem Bezug steht Wahrheit zu unseren Wesensgliedern?
Gibt es eine Erziehung zur Wahrhaftigkeit?
Ist die Wahrheit ein Wesen?
Spezifischer Bezug der Wahrheit zu den Wesensgliedern
Ich sollte als junge Kinderärztin vor Jahren einen Vortrag über Lüge und Wahrheit halten und darüber, wie man Kinder zur Wahrheit erziehen kann. Damals habe ich viel darüber nachgedacht, ob das überhaupt möglich ist. Als ich mich fragte, in welchem der Wesensglieder des Menschen die Wahrheit zuhause ist, wurde mir klar, dass die Wahrheit auf allen fünf Seins-Ebenen des Menschen lebt, nur in unterschiedlicher Art und Weise (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Die fünf Ebenen des anthroposophischen Menschenbildes). Es gehört zu den größten Aha-Erlebnissen auf meinem eigenen Entwicklungsweg, als mir das bewusstwurde.
- Wahrheit im Physischen
Auf dieser Ebene geht es um Fakten und sinnliche Tatsachen. Es ist eine Tatsache, dass ich heute diese Bluse anhabe. Niemand kann behaupten, ich hätte eine andere an. Und ihr sitzt alle hier und hört mir zu, auch das ist ein Fakt.
Erziehung zur Wahrhaftigkeit kann durch Sinnespflege und Sinnesandacht, durch präzise Sinneswahrnehmung im Physischen erfolgen (vgl. Sinne(spflege): Zwölf Qualitäten der Selbsterfahrung).
- Wahrheit auf der ätherischen Ebene
Auch im Ätherischen drückt sich die Wahrheit durch Gedankenstimmigkeit in logischen Gesetzen, Beweisen und folgerichtiger Logik aus. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Addition von zwei und zwei vier ergibt.
Erziehung zur Wahrhaftigkeit im Ätherischen erfolgt durch Gedankenklarheit und folgerichtiges Denken (vgl. Die ersten drei Jahre: Gehen – Sprechen – Denken: Denken – Selbstbewusstsein – Geisterkenntnis ). Das kann und muss geübt werden und ist ein wesentlicher Bestandteil der Waldorfpädagogik (vgl. Waldorfpädagogik: Pädagogischer Umgang mit den fünf Ebenen des Menschseins).
- Wahrheit auf der astralischen Ebene
Lessing formulierte in seiner „Erziehung des Menschengeschlechtes“: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit hätte, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, ohne sie je zu haben, und würde mich fragen: Was willst du?“ Daraufhin antwortet Lessing: „Ich fiele Gott mit Demut in seine Linke und sagte: „Vater gib! Die reine Wahrheit ist doch nur für dich allein.“
Lessing hat natürlich tief wahr gesprochen, denn es geht hier um die astrale Ebene: Seelisch sind wir immer in Entwicklung. Auf dieser Ebene ist keine allgemein gültige Wahrheit zu finden. Wir können noch so begeistert sein darüber, wie „herrlich weit“ wir es gebracht haben, um Goethes Ausdruck zu gebrauchen, die nächste Herausforderung, die uns wieder an den Anfang stellt, kommt mit Sicherheit! Wenn ihr z.B. heute denkt, ihr hättet irgendetwas aus der Anthroposophie verstanden, kann ich euch versprechen, dass wenn ihr in 10 Jahren an heute zurückdenkt, ihr milde lächeln werdet und denken: „Wie wenig habe ich damals gewusst im Vergleich zu dem, was ich heute weiß!“ Wir nennen das Entwicklung. Ein anderes Beispiel: Wenn wir mit Dreißig in ein Buch schauen, in dem wir mit fünfzehn Jahren bestimmte Stellen angestrichen und mit unserer Kinderschrift etwas daneben geschrieben haben, sind wir ganz gerührt. Im Astralischen ist die Wahrheit etwas, das sich entwickelt. Man „hat“ sie nie als etwas Gesichertes und Unveränderliches.
Viele ertragen die Vorstellung, sich ständig weiterentwickeln zu müssen, nicht und wollen deshalb die Verantwortung für die eigene Entwicklung nicht übernehmen. Sie wollen sie delegieren aus der Ohnmacht heraus, nie wirklich der zu sein, der man ist. So wie Papageno, der sinngemäß sagte: „Ich bleibe ledig! Heiraten ist viel zu kompliziert, mach‘ ich nicht! Ich entwickle mich nicht.“ Das ist heute eine tief empfundene Seelenstimmung.
Deswegen ist es aber so wichtig, dass man Kinder zur Genauigkeit in der Sinnesanschauung und zur Folgerichtigkeit im Denken erzieht, damit sie die Unsicherheit und Veränderlichkeit der Entwicklung aushalten können. Durch genaues Beobachten und Nachdenken kann man sich halten, wenn das Entwicklungsschiff schwankt (vgl. Mut: Der physische Leib als Quelle von Mut). Das sind zwei richtig gute Krücken, mit denen einem nichts passieren kann.
- Wahrheit auf der Ich-Ebene
Auf der Ich-Ebene winkt dann die Erlösung: Das Ich empfängt Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist. Ein Mensch ist umso wesentlicher, umso mehr er selbst, je mehr er oder sie sich identifiziert mit den großen Absichten, Zielen und Idealen seines Daseins.
Man kann das Zukünftige des Menschen in den drei christlichen Kernidealen zusammenfassen:
- in dem Erkenntnisideal der Wahrheit
- in dem Gefühlsideal der Liebe
- in dem Willensideal der Autonomie, der Freiheit
Erst damit verbunden sind wir ganz Mensch, können wir zu uns „Ich“ sagen. Vorher wissen wir gar nicht, zu wem wir „Ich“ sagen: Mit der unvollkommenen Person, die ich im Moment gerade bin, kann ich mich nicht zur Gänze identifizieren. Mit ihr bin ich viel zu unzufrieden, bin mir all dessen bewusst, was ich noch bin und nicht mehr sein will.
Rudolf Steiner formulierte deshalb drei nötige Schritte, um konstruktiv mit Idealen umzugehen (vgl. Ideale: Konstruktiver Umgang mit Idealen):
- Das Ideal denken.
- Sich für das Ideal erwärmen.
- Das Ideal verwirklichen.
Man muss sich jeden Tag der Herausforderung zu stellen, dem eigenen Ideal gerecht zu werden. Gelingt es einem nicht, sollte man sich ehrlich im Rahmen der abendlichen Rückschau Rechenschaft darüber ablegen. Es geht darum, eine Idee zu einem Ideal zu erheben, indem man sich für sie begeistert und auch umzusetzen versucht. Idealen zu folgen ist so gesehen ein Schulungsweg, der Übung, Übung und wiederum Übung verlangt.
Kraftzuwachs durch Identifikation mit einem Ideal
Nach einiger Zeit des Umgangs mit einem Ideal treffen wir vielleicht einen Freund von früher, der bewundernd sagt: „Du hast dich aber sehr verändert!“ Was ist da geschehen? Wenn man über ein Thema nur nachdenkt, benützt man zwar die eigenen spirituellen Kräfte, um es zu verstehen. Aber wenn man ein Ideal zu verwirklichen versucht, wird man selbst zu diesem Ideal.
In den Evangelien haben wir ein enormes Vorbild in den Worten Jesu: ICH BIN die Wahrheit. ICH BIN das Licht der Welt.
Indem wir über das Denken nachdenken, reflektieren wir über das Licht der Welt. Die Gedanken bringen Licht in alles: Sie sind die Träger der Wahrheit, die Kräfte der Integration. Sie sind auch der Weg: Schritt für Schritt kann ich eine Idee denkend nachvollziehen und versuchen zu verstehen, kann mich bemühen, Licht in eine Sache zu bringen.
Im Reich der Gedanken, dem Reich der ätherischen Kräfte, finden wir das ewige Leben. Es ist die Sphäre der Begegnung mit dem Heiland, der das Herz der Evolution ist, der in allen Lebenskräften lebt. Er ist das moralische Zentrum der gesamten Entwicklung.
Durch diese Art des Idealismus können wir in unserem Ätherleib zusätzlicher spirituelle Kräfte gewinnen (vgl. Ideale: Ideale als Kraftquelle). Das ist der meditative Weg des Anthroposophen. Er beginnt immer im Denken, greift über auf das Fühlen und ergreift den Willen, indem ich in kleinen Schritten zu verwirklichen versuche, was ich voll Begeisterung gedacht habe.
Dieses Seelenchaos als Parameter der Entwicklung muss ausbalanciert werden durch bewusste geistige Identitätsbildung und Erziehung an der Sinneswelt, durch Beobachten und Denken. Nur so ist die lebenslange Unzulänglichkeit auszuhalten (vgl. Ideale: Konstruktiver Umgang mit Idealen).
- Wahrheit als spirituelle Orientierung
Der Anthroposophische Weg beleuchtet uns das Menschenwesen in einer Art und Weise, dass wir uns für unsere eigene Entwicklung daran orientieren können. Wir sprechen deshalb auch vom Initiationsweg (vgl. Mysterien und Initiation: Initiation durch das Leben): Jeder Mensch, der sich ein Leben lang wirklich für die Wahrheit interessiert, der sich in Wahrhaftigkeit übt, während er sich entwickelt, wird immer wahrhaftiger werden – das lässt sich gar nicht verhindern. Menschen spüren, dass ein wahrhaftiger, ehrlicher Mensch sich nicht beherrschen lässt, dass er nicht verführt werden kann, weil er nicht korrumpierbar ist. So jemand ist kein guter Untertan und das erscheint manchen Autoritäten unheimlich.
Was ist daran unheimlich?
Es ist die Begegnung mit der Wahrheit, die in diesem Menschen lebt und durch ihn zum Ausdruck kommt. Dieses Gefühl des Unheimlichen tritt immer auf und ist völlig legitim, wenn wir der Wahrheit ins Auge schauen. Wenn wir gut darauf vorbereitet sind, lieben wir die Wahrheit, dann ist sie uns nicht mehr unheimlich. Denn die Wahrheit selbst ist ein Wesen. Wenn ein Mensch wahrhaftig ist, ist das Bestandteil seines Wesens. So kann der Christus sagen: „Ich bin die Wahrheit.“ Er ist unter uns, wenn wir keine Angst vor der Wahrheit haben. Doch die Wahrheit selbst ist etwas Unsichtbares. Sie ist etwas Geistiges, eine geistige Entität, ein Wesen (vgl. Ideale: Ideale als Kraftquelle).
Die Scheu vor dem Geistigen ist sehr menschlich. Aber der Sinn des inneren Initiationsweges ist, dass wir diese Scheu vor der Wahrheit überwinden und wir uns dadurch selbst mehr mit unserem eigenen Wesen identifizieren können, dass wir mehr wir selbst werden und dadurch auch die Welt besser in ihrem Wesen erkennen können (vgl. Beziehung(sfähigkeit): Wahrheit als Wirklichkeit in der Beziehung).
Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010