Medienpädagogik und Erziehung zur Freiheit
Warum muss Erziehung zur Freiheit Hand in Hand gehen mit Medienpädagogik?
Worauf baut ein adäquater Umgang mit den digitalen Medien auf?
Was sagt Rudolf Steiner zur Technik bzw. zu den damals zukünftigen Medien?
Was können und müssen wir tun, um die kulturelle Entwicklung positiv zu beeinflussen?
Rudolf Steiner hat sich einige Male sehr dezidiert darüber geäußert, wie das Leben in 100 bis 400 Jahren aussehen wird – so auch bezüglich der Technik. Ich bin immer wieder berührt, wie präzise diese Voraussagen sind und wünsche mir, dass sich eine Gruppe von Menschen findet, die Rudolf Steiner einmal als Menschen beschreibt, der die Zeichen der Zeit „lesen konnte“ und dadurch einen prophetischen Blick entwickelte.
Rudolf Steiners Aussagen zum technischen Fortschritt
- Der todbringende Aspekt der Technik
Rudolf Steiner spricht aus der geisteswissenschaftlichen Forschung heraus mit großer Begeisterung über das Wesen der Technik. Augenzeugen berichten, dass er im Auto durch das Ruhrgebiet fuhr, damals die größte Industriezone von Deutschland. Er schaute aus dem Fenster und sagte: „Alles tot.“ Er war aber nicht etwa traurig darüber, sondern stellte es einfach fest. In seinen Vorträgen führte er aus: Die Technik wird der Erde den Tod bringen, weil sie von ihren Energiereserven zehrt und Zerstörung und tiefgreifende Umwälzungen mit sich bringt. Technik ist nicht nur an sich etwas Totes, sondern wirkt sich auch todbringend aus. Die Stahlindustrie ist nicht nur für viele „friedliche“ Maschinen und Schneidewerkzeuge verantwortlich, sondern auch weltweit eng mit der Produktion von Waffen verknüpft, die todbringend sind. Diese Zusammenhänge stellen eine Richtung der Imagination für die Zukunft dar.
- Der befreiende Aspekt der Technik
Es gibt aber noch einen anderen Aspekt: Sterbeprozesse geben uns Menschen die Möglichkeit, uns von dem Materiellen zu lösen und somit frei zu werden von allem, was uns mit der Natur und der Umwelt quasi handgreiflich verbindet. Darauf beruht ja auch unser Denkvermögen. Die Todes- und Sterbeprozesse als Voraussetzung des Freiwerdens des Geistigen und der Entstehung von Freiheitsbewusstsein implizieren die Möglichkeit wunderbarer kultureller Wandlungsschritte, werfen aber auch Fragen auf:
Was soll der Mensch mit seiner Freiheit anfangen?
Kann er mit sich und der Welt etwas anfangen?
Ist er überhaupt zur Freiheit erzogen worden?
Die sogenannte Arbeitslosigkeit, die wir meist beklagen, hat zugegebenermaßen etwas Furchtbares (vgl. Medienpädagogik: Befreiung durch Technik und ihre Folgen). Sie hat aber den Effekt, dass Millionen von Menschen bereits frei sind, den ganzen Tag lang zu machen, was sie wollen. Arbeitslosigkeit eröffnet die Möglichkeit, sich selbst in Freiheit Aufgaben zu suchen (vgl. Mysterien und Initiation: Christliche Mysterien – Kultur der Verantwortung und Mitgestaltung). Wenn aber Menschen nur zu Lohnempfängern erzogen wurden, die große Ansprüche an den Staat stellen, können sie mit der ihnen zur Verfügung stehenden Freiheit nichts anfangen und werden zu verzweifelten Arbeitslosen, die sich irgendwie mit dem Internet und anderen Medien als Zeitvertreibern über Wasser halten. Wir sollten deshalb nicht nur über Medienpädagogik, sondern vorbereitend auch über „Freiheitspädagogik“ sprechen, das erscheint mir ebenso wichtig.
Erziehung zur Freiheit – aber wie?
Mich hat in diesem Zusammenhang immer gewundert, warum man nicht überall die Frage stellt:
Wie müssen unsere Bildungspläne und -einrichtungen aussehen, dass Lust auf Freiheit geweckt wird; dass Menschen den Moment herbeisehnen, in dem sie nicht mehr müssen, sondern nur noch dürfen?
Die Waldorfpädagogik sagt als einzige dezidiert: Wir wollen zur Freiheit erziehen (vgl. Waldorfpädagogik: Ideal und Prinzipien der Waldorfpädagogik). Man wird in Zukunft immer besser verstehen, warum das so wichtig ist. Erziehung zur Freiheit muss mit der Erziehung zu Medienkompetenz Hand in Hand gehen. Technik schafft die Voraussetzungen für Freiheit und Freiheit ist ein Kulturgut des Menschen. Der technische Fortschritt dient demnach der Menschheitsentwicklung (vgl. Apokalypse: Die Apokalypse als Entfaltungsgeschichte).
Moral als Interesse an anderen
Die Frage, was der Mensch mit seiner Freiheit anfangen soll, ist damit noch nicht beantwortet, auch nicht die Frage, was er überhaupt tun kann, bzw. aus welcher geistigen Orientierung heraus er etwas tun sollte. Bei alledem geht es um die Frage nach dem Guten (vgl. Apokalypse: 2. Siegel – Siegel des guten Willens):
Will ich Gutes tun mit meiner Freiheit oder will ich meine Menschenkraft der Zerstörung, dem Bösen und Destruktiven widmen?
Das ist im Grunde die Frage nach Moral und Verantwortung. Rudolf Steiner definiert Moral als Interesse für den anderen – das finde ich einen sehr schönen Moralbegriff: Jemand ist umso moralischer, je mehr Interesse er für andere Menschen, für die Natur, für die Welt aufbringt und je mehr er aus diesem Interesse heraus die Zusammenhänge und Erscheinungen im Großen wie in Kleinen wirklich zu verstehen beginnt.
In der Kinderhandlung der Christengemeinschaft kommen die Sätze vor: „Wir lernen um die Welt zu verstehen. Wir lernen um in der Welt zu arbeiten. Die Liebe der Menschen zueinander belebt alle Menschenarbeit. Ohne die Liebe wird das Menschensein öde und leer. Christus ist der Lehrer der Menschenliebe.“1 Als Kinderärztin und Gesundheitsforscherin weiß ich, dass diese Worte gleichsam das salutogenetische Manifest der Waldorfpädagogik sind (vgl. Waldorfpädagogik: Salutogenetische Waldorfpädagogik).
Rudolf Steiners Visionen von PC und Laptop
Ich möchte Worte vorlesen, die im nächsten Jahr 100 Jahre alt werden und die ich sehr berührend finde: „Heute sind wir noch nicht so weit, dass in der Schule keine religiösen Überlieferungen mehr gelehrt werden, aber wie viele verlangen nicht schon, dass nur dasjenige gelehrt wird, was die Naturwissenschaft bringt.“ (Deutschland gehört zu den wenigen Ländern, in denen Religion an der Schule noch gelehrt wird. In ganz Amerika ist das ein Tabu genauso wie im Norden Europas – dort gibt es nur noch Ethikunterricht. Diese Zukunftsvision hat sich zu großen Teilen schon erfüllt.) „Für das äußere Leben werden ja die Forderungen dieser Menschen so mächtig werden, dass in sehr kurzer Zeit die Menschheit ungeheuer veräußerlicht sein wird. Heute lernt der Mensch noch schreiben. In einer nicht sehr fernen Zukunft wird man sich nur noch daran erinnern, dass die Menschen in früheren Jahrhunderten geschrieben haben. Es wird eine Art der mechanischen Stenografie geben, die dazu noch auf der Maschine geschrieben werden wird.“2
Rudolf Steiner sah PC und Laptop voraus mitsamt den wunderbaren Wortergänzungsprogrammen: Man muss nur noch den Wortanfang eingeben und bekommt sofort drei, vier Angebote – ein Klick und schon steht das richtige Wort da. Es gibt auch schon Programme zur Spracherkennung. Man hat förmlich vor Augen, wie Rudolf Steiner all das vor sich sah. Ich kenne einen anderen Vortrag, in dem er sagt, man werde „einen Ballen Baumwolle von Liverpool nach Rom verschieben“3 und bringt das Wort „schieben“ immer wieder – wie man auf dem Computer per Klick Dateien verschiebt. Er hat ganz präzise vor Augen, wie das aussehen wird: „… So wird die Mechanisierung des Lebens vor sich gehen.“
Notwendigkeit der Aufklärung über sich selbst
Was kann jeder einzelne von uns tun, um noch konsequenter, noch intensiver, da wo er es vermag, einen positiven Einfluss auf die nächsten Jahrzehnte menschlicher Kulturentwicklung zu nehmen (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierungsprozesse in der Menschheitsentwicklung)?
Rudolf Steiner betont an all diesen Stellen, dass diese Entwicklung sich vollziehen wird, dass es keinen Sinn habe, etwas dagegen unternehmen zu wollen. Es müsse aber eine Parallelentwicklung stattfinden, eine Ergänzung, die nur gelingen könne, wenn der Mensch seine Freiheit zum Guten gebraucht. Hier nun seine Vision einer parallelen Entwicklung (vgl. Medienpädagogik: Technik braucht inneren Ausgleich):
„Das äußere Leben wird veräußerlicht werden, aber das innere Leben wird sein Recht fordern. Dasjenige, was wir heute als Geisteswissenschaft treiben, mögen die Menschen jetzt noch verspotten, aber vor dem Sehnsuchtsschrei der Menschen nach der geistigen Welt werden sich die Materialisten zurückziehen müssen. Und so wird man anfangen, den Christus zu erkennen, in denjenigen Zeitepochen, die einen offenen Sinn für die Spiritualität haben werden, dann allerdings durch die Reaktion gegen das veräußerlichte Leben.“4
Rudolf Steiner sieht in der technischen Entwicklung die Möglichkeit aufzuwachen für die Notwendigkeit, durch die Oberflächlichkeit hindurch in die eigenen Wesenstiefen vorzudringen und den Christus als innersten Evolutionsfaktor zu erkennen. Die Sehnsucht der Menschen wird dahin gehen, von größtmöglicher Veräußerlichung zur größtmöglichen Verinnerlichung zu gelangen. Auch das ist eine Frage der Erziehung.
Erziehung zur Freiheit ist nicht nur Erziehung zur Medienkompetenz, zum Umgang mit der modernsten Spielart der Technik, der digitalen Welt. Erziehung zur Freiheit ist auch Erziehung zur Spiritualität. Dabei geht es nicht darum, Heranwachsende für ein bestimmtes Glaubensbekenntnis zu „präparieren“, sondern sie zu einer vollkommen freien Spiritualität zu führen, die ihnen die Möglichkeit gibt, sich selbst zu finden bzw. die Spiritualität zu finden, die zu ihnen gehört, die ihrem Menschentum entspricht. Aus diesem Grunde benutzt Rudolf Steiner für seine Geisteswissenschaft das nicht ganz einfache Wort aus dem Griechischen, „Anthroposophie“, das nur das Eine aussagen will: Es gibt ein Wissen von der Menschlichkeit (vgl. Anthroposophie: Leitmotive der Anthroposophie). Man kann ein Bewusstsein vom eigenen Menschentum entwickeln. Um diese Bewusstseinsbildung geht es, um die Aufklärung über sich selbst. Deswegen ist der edelste Bereich der Anthroposophie die Menschenkunde – aus medizinischer und pädagogischer Sicht, aber auch unter dem Gesichtspunkt der Evolution.
Vgl. „Ich im Netz. Was geschieht mit uns im Internet?“, Amthor Verlag, Heidenheim 2015
- Rudolf Steiner, Sonntagshandlung. In: Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts. GA 269. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1997, S. 42-44.
- Rudolf Steiner, Vorstufen zum Mysterium von Golgatha. GA 152. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1990, S. 84.
- Rudolf Steiner, Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste, GA 167, Vortrag vom 4.4.1916: Streiflichter auf die tieferen Impulse der Geschichte II, S. 98 ff.
- Ebenda, S. 85.