Anthroposophie als neues Mysterienwissen
Was unterscheidet die Mysterien der Weisheit bzw. des Wissens von den neuen Mysterien des Willens?
Grundgedanken der neuen Mysterien
Rudolf Steiner sprach bereits in seinem öffentlichen Vortrag vom 17. Juni 1908 in Nürnberg1 über den Grundgedanken der neuen Mysterien:
„Je mehr der Mensch individuell wird, desto mehr kann er Liebeträger werden. Wo das Blut die Menschen zusammenkettet, da lieben die Menschen aus dem Grunde, weil sie durch das Blut hingeführt werden zu dem, was sie lieben sollen. Wird dem Menschen die Individualität zuerteilt, hegt und pflegt er den Gottesfunken in sich, dann müssen die Impulse der Liebe, die Wellen der Liebe von Mensch zu Mensch gehen aus freiem Herzen heraus. Und so hat der Mensch mit diesem neuen Impuls das alte Band der Liebe, die an das Blut gebunden ist, bereichert. Die Liebe geht nach und nach über in die geistige Liebe, die von Seele zu Seele fließt, die zuletzt die ganze Menschheit umfassen wird mit einem gemeinschaftlichen Band allgemeiner Bruderliebe. Der Christus Jesus aber ist die Kraft, die lebendige Kraft, durch die, so wie sie in der Geschichte war, wie sie sich den äußeren Augen zeigte, zum ersten Mal die Menschheit zur Verbrüderung gebracht worden ist. Und die Menschen werden lernen, dieses Band der Bruderliebe als das vollendete, als das vergeistigte Christentum aufzufassen. (…)
Der Wahrheit nach können Sie allerdings, wenn sie tief genug forschen wollen, das, was das Christentum an Lehren enthält, in den anderen Religionen auch finden. Neue Lehren hat das Christentum nicht gebracht. Aber das Wesentliche im Christentum liegt nicht in den Lehren. (…)
Dass der Christus sichtbar in die Erscheinung, sichtbar in die Welt getreten ist als Mensch unter Menschen, das ist es, was den Unterschied des Christus-Evangeliums ausmacht gegenüber der göttlichen Verkündigung von anderen Religionen. (…)
Wie der Schüler, der in alten Zeiten eingeweiht wurde, einen Rückblick haben konnte auf die alten, auf die vergangenen Zeiten des Geisteslebens, so erhalten diejenigen, welche im christlichen Sinne eingeweiht werden, durch die Teilnahme an den Impulsen des Christus Jesus die Fähigkeit zu sehen, was aus dieser unserer Erdenwelt wird, wenn die Menschen im Sinne des Christus-Impulses wirken. (…)
Während so die frühere Einweihung eine Einweihung in die Vergangenheit, in uralte Weisheit ist, geht die christliche Einweihung dahin, dem Einzuweihenden die Zukunft zu enthüllen. (…)
Der sinnliche Alltagsmensch setzt sich Ziele für den Nachmittag, für den Abend, den Morgen. Der geistige Mensch vermag aus den geistigen Prinzipien heraus ferne Ziele sich zu setzen, die seinen Willen durchpulsen, seine Kräfte lebendig machen. So der Menschheit Ziele setzen, d. h. im wahren höchsten Sinn, im Sinn des ursprünglichen christlichen Prinzips, das Christentum esoterisch erfassen. So hat es derjenige verstanden, der das große Prinzip der Einweihung des Willens geschrieben hat, der die Apokalypse geschrieben hat. Man versteht die Apokalypse schlecht, wenn man sie nicht versteht als den Impulsgeber für die Zukunft, für das Handeln, für die Tat.“
Von der Verschwiegenheit zur Offenbarung
So Steiner bereits 1908. Es ist aber ein großer Unterschied, etwas zu hören und zu wissen – oder aber etwas zum rechten Zeitpunkt am rechten Ort zu realisieren. Die eigentliche Tat Rudolf Steiners auf der Weihnachtstagung war, die neuen Mysterien so zu stiften, dass sie seit diesem Zeitpunkt zu den Kulturtatsachen dieser Welt gehören.
Die Weisheitsmysterien unterlagen einer strengen Schweigepflicht – wer eingeweiht war, durfte darüber zu Ungeweihten nicht sprechen (vgl. Mysterien und Initiation: Über die alten Mysterien). Die Weisheitsmysterien waren eingebettet in Volkstraditionen. Tempel und Rituale gaben den weltlich und geistlich Herrschenden Weihe und Autorität.
Im Gegensatz dazu geht das christliche Mysterium auf die „Apokalypse“, die Offenbarung, zurück: Der Tod auf Golgatha, dieses tiefste Mysterium der Menschheit, fand vor aller Augen statt. Hier haben die Willensmysterien ihren Ursprung (vgl. Mysterien und Initiation: Mysterien des Willens). Diese neuen christlichen Mysterien sind allgemeinmenschlich ausgerichtet und urständen im sich zur Freiheit entwickelnden Individuum und dessen Willen, sich konstruktiv in den Dienst der Menschheitsentwicklung zu stellen.
Dass die Umsetzung nicht einfach ist, dass hier Missverständnisse auftreten können, Fehler gemacht werden und es insbesondere schwer ist, den neuen Geist einer solchen Gemeinschaft zu begreifen, liegt auf der Hand. Das erklärt, warum die weitere Entwicklung nach Rudolf Steiners Tod vielen Unwägbarkeiten ausgesetzt war und weiterhin sein wird. Dennoch sind die Arbeitsziele dieser neuen Mysterien seither auf dem Weg in die Realisierung und begeistern viele Menschen weltweit (vgl. Mysterien und Initiation: Christliche Mysterien – Kultur der Verantwortung und Mitgestaltung).
Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen
- Rudolf Steiner, Die Apokalypse des Johannes, GA 104, S.28-32.

