Das Besondere der Weihnachtstagung von 1923/24

Warum wird diese Weihnachtstagung so in den Vordergrund gestellt?

Was geschah im Ätherischen, nachdem das erste Goetheanum einer Brandstiftung zum Opfer gefallen war?

Was veranlasste Rudolf Steiner, die „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ zu gründen?

Nach dem Brand des ersten Goetheanum

Das Einmalige dieser Tagung hängt damit zusammen, dass im Jahr zuvor das von Rudolf Steiner erbaute erste Goetheanum einer Brandstiftung zum Opfer gefallen war. Das Ergebnis einer zehnjährigen Zusammenarbeit von Bauleuten und KünstlerInnen aus 17 Nationen wurde in der Silvesternacht 1922/23 vernichtet. Auf der Erde blieb eine Brandruine zurück.

In der geistigen Welt erschien aufsteigend von der Erde ein übersinnlicher ätherisch-geistiger Tempelbau, der seitdem dort zugänglich ist. So wurde dies von vielen erlebt, die damals Zeitzeugen waren. Mir hat es die Heileurythmistin Isabella de Jaager nahegebracht, deren Mann als Bildhauer am ersten Goetheanum mitgewirkt hatte. Sie sagte: „Der Bau ist jetzt in der geistigen Welt – seither können wir uns geistig mit ihm in Verbindung halten" (vgl. Gemeinschaft(sbildung): Quellen der Gemeinschaftsbildung im Ätherischen).

So wird auch verständlicher, warum Steiner den zweiten Goetheanumbau als „physisches Symbolum“ des ersten Goetheanum bezeichnete. Der ursprüngliche Tempelbau, „das Haus des Wortes“, ist jetzt zwar den physischen Blicken entzogen – es bleibt aber geistig bestehen, was in Liebe aufgebaut wurde. Steiner sagte dazu auf der Weihnachtstagung 1923/24: „Wir stehen da als Goetheanum in der Seele, als seelisches Goetheanum, das natürlich möglichst bald den äußeren Bau haben muss.“2

Notwendigkeit einer Gesellschaft mit geistigem Inhalt

Durch die Brandkatastrophe war zudem deutlich geworden, dass die 1912/13 aus der Theosophischen Gesellschaft hervorgegangene „Anthroposophische Gesellschaft/AG“ nicht die Kohärenz und Stoßkraft besaß, um für die Kulturwirksamkeit der Anthroposophie ein geeignetes Instrument zu sein. So stand das Jahr 1923 für Rudolf Steiner unter folgenden Fragestellungen:

Wie kann und soll es mit der Gesellschaft und der Hochschule weitergehen?

Was bedeutet diese Zäsur in Folge der Brandkatastrophe für die anthroposophische Arbeit?

Ist überhaupt der Wille zum Wiederaufbau des Goetheanum da?

Wie wird aus dem „Chaos zusammenhangloser Gruppen“ der bestehenden AG „eine Gesellschaft mit geistigem Inhalt“ und ausstrahlende Kulturwirksamkeit?2

Gründe für eine Neubegründung der Gesellschaft

Drei Tatsachen waren es, die Rudolf Steiner bewogen, die Initiative zur Neubegründung der Gesellschaft zu ergreifen und sich zu entschließen, nicht nur selbst geeignete Vorstandsmitglieder vorzuschlagen, sondern auch selber den Vorsitz der Anthroposophischen Gesellschaft zu übernehmen:

  1. Die Gründung von anthroposophischen Landesgesellschaften in diversen Ländern.

  2. In der Schweiz, in Deutschland und darüber hinaus erkannte man die Notwendigkeit, sich finanziell für den Wiederaufbau des Goetheanum zu engagieren.

  3. Ein entscheidendes Drittes war aber ein Gespräch, das Rudolf Steiner und Ita Wegman im Sommer 1923 in Penmaenmawr/England im Rahmen des „Vortragszyklus über Initiationserkenntnis“3 hatten.

Dort fragte sie ihn, ob es möglich sei, die medizinischen Mysterien alter Zeit zu erneuern – in einer neuen, zeitgemäßen Form. Dies sei für ihn, so Steiner später zu dem holländischen Arzt Willem Zeylmans van Emmichhoven, „die Parzival-Frage“ gewesen, die es ihm ermöglicht hätte, die Weihnachtstagung in der Form durchzuführen, wie dies dann geschehen sei.4(vgl. Anthroposophische Medizin: Ita Wegmann und die Entwicklung der Anthroposophischen Medizin)

Alle, die an dieser Tagung teilnahmen, bemerkten unmittelbar, dass hier keine „schöne weihnachtliche Tagung“ vor sich ging. Vielmehr wurden sie Zeugen einer Inaugurationstat Rudolf Steiners: der Begründung eines neuen Mysterienwesens, ja, eines „Welten-Zeitenwende-Anfangs“.5(vgl. Menschheitsentwicklung: Der göttliche Weltenplan)

Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen

  1. Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24, GA 260, S. 121.
  2. Rudolf Steiner, Briefe an die Mitglieder, 5. Mitgliederbrief, S.33.
  3. Rudolf Steiner, „Initiationserkenntnis“, GA 227.
  4. J. Emanuel Zeylmans van Emmichhoven, Wer war Ita Wegman? Bd.II, S. 216f.
  5. Siehe FN 1, S. 281.