Frieden stiften – aber wie?

Warum braucht es die „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ auch heute noch – über 100 Jahre nach ihrer Neugründung an der Weihnachtstagung 1923/24?

Frieden den Menschen, die eines guten Willens sind

Die christliche Weihnachtsbotschaft lautet: Es offenbart sich Gottes Geist in den Höhen – und er bringt Frieden den Menschen, die eines guten Willens sind.

Diese Botschaft war ein zentrales Anliegen bei der Neubegründung der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ 1923/24. Sie war konzipiert als eine Gesellschaft, in der Menschen verschiedenster Erdgegenden, Traditionen und spiritueller, wissenschaftlicher und künstlerischer Orientierungen die Möglichkeit haben, sich kennen, respektieren und verstehen zu lernen – und wo immer möglich auch zusammenzuarbeiten.

Diese Aufgabe besteht fort – darum braucht es diese Gesellschaft auch heute und in der Zukunft.

Wichtigkeit des Bemühens um ein harmonisches Zusammenwirken

Wenn es nur um mich geht, um mein Interesse für die Anthroposophie, um meinen Arbeitskreis, indem ich mich mit den Menschen treffe, mit denen ich gerne zusammenarbeiten will, dann brauche ich selbstverständlich keine „Anthroposophische Gesellschaft“. Das entspricht ja auch dem heutigen Zeitgeist, wo man sich nur ungern sozial bindet oder sonst wie verpflichtet. Das Leben eines jeden stellt große Anforderungen, das Private gewinnt zunehmend an Bedeutung. Deshalb meidet man jede weitere unnötige Belastung.

Dieser Tendenz steht der Impuls Marie Steiners1 diametral entgegen, verschiedenen Menschheitsströmungen ein harmonisches Zusammenwirken zu ermöglichen (vgl. Anthroposophie: Das Prinzip der vertikalen Sukzession in der Anthroposophie), den sie in ihrer Einleitung zur Buchausgabe der Weihnachtstagung beschreibt:2 „Die tiefste Esoterik könnte darin bestehen, bisher divergierende frühere geistige Strömungen in einigen ihrer Repräsentanten jetzt zum harmonischen Ausgleich zu bringen. Das wäre eine esoterische Aufgabe (…).

Jetzt kann man sich fragen, warum gerade das Bemühen um ein harmonisches Zusammenwirken so wichtig ist.

Schwierigkeiten überwinden, statt davor wegzulaufen

Tatsache ist, dass jeder Krieg und Streit, jede Spaltung, jeder soziale Unfrieden gerade in diesen persönlichen Differenzen zwischen den unterschiedlichen karmischen Strömungen und verschiedenen geistig- kulturellen Ausrichtungen ihre Ursache haben. Das erkennt jeder, der sich wirklich für sozialen Frieden interessiert.

Wer nach den Entwicklungsbedingungen in Erziehung und Selbsterziehung fragt, damit die christliche Weihnachtsbotschaft – „Offenbarung aus den Höhen und Friede auf Erden den Menschen, die eines guten Willens sind“ – realisiert werden kann, kommt nicht umhin, zu erkennen, dass eine solche Friedensfähigkeit nur in verbindlichen Gemeinschaften gelernt und geübt werden kann: wo man nicht wegläuft, wenn es schwierig wird, sondern sich entwickelt, indem man lernt, die Schwierigkeiten zu überwinden.

Mit dieser Frage steht man mitten in unserer Gegenwart darin, die nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert auch jetzt im 21. Jahrhundert in nur schwer erträglicher Weise von Krieg, Streit, Korruption und Machtmissbrauch vielerorts gekennzeichnet ist – Tendenz steigend.

Da kann es schon begeistern, wenn man die Frage nach der Friedensfähigkeit stellt und auch über die dafür nötige Sozialkompetenz verfügt, zu erkennen, dass man dies besonders gut in den Arbeitszusammenhängen von „Anthroposophischer Gesellschaft“und Hochschule lernen kann. Im vertrauten Freundeskreis findet man diese Entwicklungsgegebenheiten aufgrund fehlender Herausforderungen nicht, wohl aber im Umgang mit „schwierigen“ Menschen bzw. solchen, die anders sind als wir selbst. Unsere besten Entwicklungspartner sind meist Menschen, die wir uns nicht spontan zu Freunden wählen würden.

Auseinandersetzung mit dem Bösen nicht scheuen

Was der Einzelne leistet, ist an sein Schicksal und seine Lebens- und Arbeitszeit gebunden. Was eine Institution leistet, hat eine andere Art der Wirksamkeit und historische Kontinuität – hier spielt Überindividuelles herein, eine soziale Leiblichkeit für ein höheres Wesen als es der individuelle Mensch ist. Denn mit jeder Institution verbindet sich ein diese führender Gruppengeist und damit verbunden auch mögliche Doppelgänger-Qualitäten.

So gibt es den guten Geist des Goetheanum,3 aber auch luziferische und ahrimanische Doppelgänger-Qualitäten, die ihn in seiner Wirksamkeit behindern. Rudolf Steiner charakterisiert diese Qualitäten in den Statuten der Weihnachtstagung (vgl. Anthroposophie: Die Statuten der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft) in Form von Dogmatik, Sektierertum und politischen Bestrebungen. Eine christliche Mysterienstätte, wie es das Goetheanum sein will, darf die Auseinandersetzung mit dem Bösen nicht scheuen.

Rudolf Steiner nennt eindrücklich das esoterische Entwicklungsgeheimnis unserer gegenwärtigen fünften Kulturepoche der Bewusstseinsseele „das Geheimnis des Bösen“ – da ohne Abirrungsmöglichkeiten die Entwicklung von Freiheit und Würde nicht möglich wären.

Frieden stiften durch gegenseitiges Verstehen

Sich der „Anthroposophischen Gesellschaft“ und ihrer Hochschule bewusst anzuschließen stärkt den menschlichen Zusammenhang, den Rudolf Steiner und seine MitarbeiterInnen zusammen mit den 700 bis 800 anwesenden Mitgliedern vor 100 Jahren begründet haben. Steiner nennt die Gesamtheit dieser Persönlichkeiten im Weihnachtsstatut den „Grundstock“ dieses Arbeitszusammenhangs. An diesen Grundstock haben sich seither jedes Jahr immer neue Menschen angeschlossen.

Im Laufe der Jahrzehnte ist jedoch auch die Gemeinschaft der verstorbenen Mitglieder gewachsen, die mit ihrem Erdenwirken verbunden bleiben und uns Lebende ebenfalls inspirieren können. Die „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ ist eine wachsende weltweite Gemeinschaft, die Menschen aller Kulturen und Glaubensrichtungen umfasst. Dort gibt es als Mitglieder Schintoisten, Hinduisten, Buddhisten, Menschen jüdischen Glaubens, Muslime, Materialisten, Christen der verschiedensten Bekenntnisse und andere mehr. Sie alle lernen durch die Anthroposophie ihre eigene spirituelle Ausrichtung besser verstehen.

Da die Anthroposophie keine Glaubensrichtung ist (vgl. Anthroposophie: Anthroposophie und Religion), sondern vielmehr ein Weg, andere Menschen und ihre Orientierungen zu verstehen und dadurch in der eigenen Selbsterkenntnis weiterzukommen, kann sie dieses Wunder vollbringen: Frieden zu stiften durch gegenseitiges Verstehen.

Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen

  1. Marie Steiner, auch Marie Steiner-von Sivers, geborene Marie von Sivers oder Sievers, Siebers (* 14. März 1867 in Włocławek; † 27. Dezember 1948 in Beatenberg, Schweiz), war eine deutsch-baltische Schauspielerin, Regisseurin, Theosophin und Anthroposophin. Als zweite Ehefrau Rudolf Steiners (Begründer der Anthroposophie) besaß sie die österreichische Staatsbürgerschaft (wikipedia).
  2. Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924, GA 260, S. 18.
  3. Das Goetheanum ist der Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und eine Freie Hochschule für Geisteswissenschaft.