Substanz-Erkenntnis als Grundlage für Heilmittel-Erkenntnis

Was meint Rudolf Steiner mit der Weltenaufgabe der Substanzen?

Was wird anhand der Beispiele Ameisensäure und Oxalsäure im Hinblick auf ihre Wirkung im Zellstoffwechsel aufgezeigt?

Inwiefern muss der Organismus als Tätigkeitszusammenhang begriffen werden?

Die Weltenaufgabe der Substanzen

In Kapitel XVII von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“1 liegt der Fokus auf einer konsequent prozessorientierten Substanz-Erkenntnis, über die Rudolf Steiner im Ärztekurs für die jungen Mediziner schreibt, dass es die Aufgabe des Arztes sei, „die Weltenaufgaben der Substanzen zu erkennen“.2

In „Grundlegendes…“ formulieren die Autoren es so: „Wer die Wirkung von Heilmitteln beurteilen will, muss ein Auge haben für die Kräftewirkungen, die sich im menschlichen Organismus ergeben, wenn eine Substanz, die außer demselben gewisse Wirkungen zeigt, in irgendeiner Art in ihn eingeführt wird.“3 (vgl. Natur und Kosmos: Substanzverständnis der Anthroposophie Etwas von dieser ‚Weltenaufgabe‘ wird dort anhand der Ameisensäure und der Kleesäure aufgezeigt und damit auf die Bedeutung dieser Blickrichtung für bestimmte Prozesse im menschlichen Zellstoffwechsel hingewiesen (vgl. Natur und Kosmos: Aspekte einer anthroposophischen Substanzkunde).

  • 1. Beispiel: Aufgabe der Ameisensäure

Ameisensäure wird vom Menschen mit der Nahrung in der Regel nicht aufgenommen. Sie wird im Tierreich gebildet und als Abwehrstoff, insbesondere der Insekten, ausgeschieden – selten auch bei Pflanzen, wie z.B. in den Brennhaaren der Brennnesseln. Ihre ‚Weltaufgabe‘ ist inzwischen gut erforscht: Die rote Waldameise ist für die Gesunderhaltung der Wälder unentbehrlich. Sie steht daher auch unter Naturschutz, seitdem man ihre Bedeutung für die ‚Lebensgemeinschaft Wald‘ erkannt hat. Um einen Ameisenbau herum vernichtet jedes Volk pro Tag zehntausende Schädlinge bzw. deren Larven und Raupen (wie z.B. Borkenkäfer- und Blattwespenlarven) sowie Kadaver und Pilzmyzel in morschem Holz. So hilft die Ameisensäure dem Mikrobiom des Bodens, die verwesenden Pflanzenreste und das modernde Holz zu verarbeiten. Auch verbreiten Ameisen auf ihren Wegen tausende von Samen und tragen so zur Vielfalt im Wald bei sowie zur Verbesserung der Bodenbeschaffenheit. Instrument für ihre wertvollen reinigenden Tätigkeiten ist die Ameisensäure mit ihrer aggressiven Toxizität.4

  • 2. Beispiel: Aufgabe der Oxalsäure

Die Oxal- bzw. Kleesäure hingegen findet sich in allen Pflanzen und den meisten Bakterien und in unterschiedlichen Mengen in vielen Nahrungsmitteln wie z.B. in schwarzem Tee, Mangold oder Rhabarber. Nach der Aufnahme muss sie dann im Organismus zu ausscheidungsfähigen Endprodukten abgebaut werden.

Ein ‚Zuviel‘ führt zusammen mit Calcium im Darm zu schwer löslichen Salzen (Oxalaten), was Anlass geben kann für die Bildung von Blasen- und Nierensteinen. Oxalsäure ist ein pflanzliches Gift – für den Menschen können bereits Gramm-Mengen tödlich sein.5 Als Kalzium-, Magnesium- oder Kaliumsalze sind die Oxalate allgegenwärtig und aus dem Zellstoffwechsel der Lebewesen nicht wegzudenken – bis hin zu den meisten Pilzen und Bakterien. Im Gegensatz zur Ameisensäure entfaltet die Oxalsäure ihre Wirkung nicht in dem Zwischenbereich zwischen dem Mineralisch-Physischen und dem Ätherisch-Lebendigen. Sie hat ihre Aufgabe in der Lebenswelt der Pflanzen – aber als Giftsubstanz im Grenzgebiet zum astralischen Kräftebereich. Da Gifte auch in schwacher Dosierung immer lebensfeindlich sind, regen sie den Organismus dazu an, auf unterschiedlichen Wegen diese Gifte schnellstmöglich abzubauen oder in Verbindung mit anderen Substanzen unschädlich zu machen. Diese Abbauvorgänge dienen im Organismus der Tiere und der Menschen der Bewusstseinsbildung, die sich, wie mehrfach erwähnt, auf Abbauvorgänge stützt (vgl. Ernährung und Verdauung: Substanzströme bei Aufbau und Abbau).6

Biochemisch handelt es sich

  • bei der Ameisensäure um die einfachste Monocarbonsäure (Formica, HCOOH, ihre Salze heißen Formiate)

  • und bei der Oxal- bzw. Kleesäure und die einfachste Dicarbonsäure (Acidum oxalicum, HOOC-CO-CH2-COOH, ihre Salze heißen Oxalate).

Notwendige Verwandlung von Oxalsäure in Ameisensäure

Rudolf Steiner hat erstaunlich oft über Bedeutung der biochemischen Verwandlung von Oxal- in Ameisensäure gesprochen.7 Den Prozess der Bildung von Oxalsäure, der hauptsächlich in den Verdauungsorganen stattfände, hielt er für eine notwendige Grundlage dafür, dass der Mensch überhaupt leben könne – grundlegend also dafür, dass die Ätherkräfte zur Wirksamkeit kommen können.

Ihre Umwandlung in Ameisensäure aber sei eine entsprechende Grundlage für das Wirksamwerden der astralischen Kräfte in der physisch-ätherischen Konstitution. In einem Ärztevortrag führt er weiter aus, dass man im Falle der Ameisensäure dahin kommen müsse, zu erkennen, dass sie im Menschen, wie auch draußen in der Natur, die Aufgabe hat, gegenüber den Prozessen des Alterns, des Absterbens und des Vermoderns immer wieder weiteres Leben, weitere Entwicklung zu ermöglichen.8 Auch führt er aus, dass „die heutige Physiologie“ diese Prozesse erst finden müsse.9, 10

Steiner und Wegman sahen

  • in der Ameisensäure die Schlüsselsubstanz im Stoffwechsel des tierischen Organismus
  • und in der Oxal- bzw. Kleesäure die Schlüsselsubstanz im pflanzlichen Zell-Metabolismus.

Organismus als Tätigkeitszusammenhang begriffen

In Abs. 2 wird deutlich gemacht, wie entscheidend es für einen Organismus ist, eine Substanz nicht nur zu besitzen, sondern auch den Bildeprozess zum Aufbau dieser Substanz zu leisten. Im Tun liegt das Wesen des Organismus, nicht in seinen Substanzen. Der Organismus ist nicht ein Stoffzusammenhang, sondern ein Tätigkeitszusammenhang. Der Stoff trägt den Anreiz zur Tätigkeit in sich. Hat er diesen Anreiz verloren, so hat er für die Organisation keine weitere Bedeutung.11

Unter diesem Gesichtspunkt kann auch die jeweilige Aufgabe der Ameisensäure und der Kleesäure im menschlichen Organismus verstanden werden. Hier ‚dienen‘ diese Substanzen der Ich-Organisation: „Die Ich-Organisation braucht diesen Übergang der organischen Substanz in den leblosen Zustand. Aber sie braucht eben den Vorgang des Überganges; nicht, was dann durch den Übergang entsteht. Ist nun das nach dem Leblosen hin sich Entwickelnde gebildet, so wird es im Innern des Organismus zur Last. Es muss entweder unmittelbar abgesondert werden, oder aufgelöst, um mittelbar hinwegzukommen. Geschieht nun für etwas, das aufgelöst werden sollte, diese Auflösung nicht, so häuft es sich im Organismus an und kann die Grundlage für gichtische oder rheumatische Zustände bilden.“12

In der Biologie werden die Phänomene dieses Übergangs zwischen Abbau und Aufbau im Falle der Gesundheit als metabolische Homöostase beschrieben, wobei deren ‚Regulator‘ ein noch nicht gefundener Faktor ist. Es wird aber das Erstaunen zum Ausdruck gebracht darüber, dass unabhängig davon, was und wie viel man gerade isst oder nicht und wie viel Oxalacetat gerade mit der Nahrung aufgenommen hat oder nicht, die Substanzen im sogenannten Stoffwechsel-Pol der Zellen konstant gehalten werden. D.h. in den Zellen sind die Enzyme des Katabolismus (Abbau) und Anabolismus (Aufbau) normalerweise derart reguliert, dass ein Gleichgewicht gewahrt bleibt. Wird dieses Gleichgewicht jedoch gestört, bedeutet dies den Beginn krankhafter Prozesse.13

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 202514

  1. Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27, S. 51.
  2. Siehe auch die Beschreibung des Fettstoffwechsels bei Wolff (2013), 119–188.
  3. Vgl. Glöckler u. a. (2024b).
  4. Siehe FN1, S. 52f.
  5. Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293, S. 196.
  6. Vgl. Martin und Weiß (2008), 30–40; Belalcazar u. a. (2010), 2297–2303.
  7. Nieß und Thiel (2017), 112–126.
  8. Vgl. Witte u. a. (2009), 1255–1260.
  9. Die hier zusammengestellten Referenzen 247–250 sind der Publikation „Innere Medizin“ von Girke entnommen: Siehe Girke (2020), 597–736.
  10. Siehe FN 1, S. 53.
  11. Ebenda.
  12. Vgl. Girke (2020), 345–351.
  13. Siehe FN 8, S. 210 f.
  14. In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.