Angriffe auf die Kindheit auf fünf Ebenen
Auf welchen Ebenen ist die Kindheit in der Gegenwart gefährdet?
Wie äußern sich diese Gefährdungen?
Fünf Gefährdungsebenen
Ich habe versucht, Kindheit unter dem Aspekt der Gefährdung seitens der heutigen Kultur anzuschauen und habe fünf gefährdende Aspekte gefunden.
- 1. Physischer Aspekt – Schrott vom „Markt Kindheit“
Kindheit ist zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren geworden. Alles, was über die Vermarktung an das Kind herankommt, geht über die Sinne und prägt sich dem physischen Leib ein. In der Computerbranche gibt es bereits Angebote ab dem 3. Lebensmonat. Ich las in den USA einen Artikel, in dem beschrieben wird, wie die Medienbranche erneut versucht, einen Vorstoß zu machen und Menschen vom Wert des PCs für die frühe Pädagogik zu überzeugen. Und das trotz aller gegenteiliger Forschungsergebnisse! Es handelt sich um einen richtigen Kampf.
Das Kind ist umgeben von „Schrott“, egal ob Spielzeug oder Gebrauchsartikel: Heute im Flugzeug sah ich ein Baby ohne Mützchen, aber mit einem hässlichen Maskottchen – das sich als Täschchen für den Schnuller entpuppte. Dieses goldige Kind musste ständig dieses Fratzending sehen… hatte es immer bei sich. Das Schlimmste war aber, dass der Kleine in dem kalten Zugwind des Flugzeugs schrie: warum? Weil der Kopf kalt war und niemand es bemerkte. Die Unwissenheit vieler Eltern in Bezug auf die prägende Wirkung des Physischen für ihr Kind ist erschütternd.
- 2. Ätherischer Aspekt – verplante Kindheit
Das gilt auch für das Ätherische. Alles, was über die Strukturierung der Zeit an das Kind herankommt, prägt sich dem Ätherleib und der Gewohnheitsbildung ein. Auf einer Fahrt von Basel nach Paris bin ich kürzlich diesem zweiten Aspekt begegnet: Die Mutter hatte eine Mappe voller kleiner Bilder dabei. Sie war offensichtlich bemüht, keine Stunde für die Intelligenzentwicklung ungenützt zu lassen, weil sie wohl wusste, dass in den ersten drei Jahren eine ganz Flut an Verknüpfungen von Nervenendigungen stattfindet. Der Vater saß unbeteiligt mit seinem Bier und der Zeitung am Fenster und die Mutter zeigte auf einzelne Bildchen und benannte sie – das Kind sollte die Begriffe nachsprechen und tat es auch. Das ging solange, bis der Kleine, der etwa 2 Jahre alt war, erschöpft über dem Buch einschlief. Dann hat sie ihn hingelegt – und sobald er wieder aufwachte, ging es genauso weiter. Das war Wesen und Inhalt der Mutter-Kind-Beziehung: Intelligenzförderung.
Ganz anders die seltenen Zugfahrten mit unserem Vater – am Fenster zu sitzen und rauszuschauen und Sachen zu entdecken! Wir durften auch den Zug erforschen, loslaufen und andere Leute anschauen, wobei uns vorher eingeschärft wurde, wie wir uns zu benehmen hätten – das war spannend! Oder wir saßen im Abteil und sangen und dann gab es etwas zu essen. Das waren richtige Ereignisse, das war gelebte Kindheit. Heute überwiegt das Phänomen der verplanten Kindheit. Die Eltern meinen es gut, sie tun das Beste für ihr Kind und wissen nicht, was sie tun! Denn in den Elternausbildungen wird nicht gelehrt, was das Kind wirklich braucht. Rudolf Steiner wollte, dass kein Waldorfschüler die Schule verlässt, ohne über die ersten drei Jahre und die wichtigsten Erziehungsprinzipien Bescheid zu wissen – das verstehe ich immer besser. Das ist Aufklärungsunterricht!
- 3. Seelischer Aspekt – mangelnde Beziehungsqualität
In Bezug auf diesen Aspekt müssen wir wissen: Wie wir uns den Kindern gegenüber benehmen, prägt sich dem Astralleib ein. Deswegen ist es so wichtig, die Ergebnisse der Bindungsforschung aus den letzten 40 Jahren dankbar entgegenzunehmen. Es ist wunderbar, was man heute alles weiß! Aber in der Alltagswirklichkeit geschieht das Gegenteil von Bindungsaufbau und Beziehungspflege: Menschen finden immer weniger Zeit für ihre Beziehungen. Kinder erleben sehr selten das Vorbild guter, gesundheitsfördernder menschlicher Beziehungen.
Merkmale gesunder BeziehungenSalutogenetisch wertvolle menschliche Beziehungen sind beseelt von drei Qualitäten:
- Interesse füreinander – Verstehbarkeit
Man will den anderen verstehen. Eine Beziehung, in der die Partner sich gegenseitig verstehen wollen, ist meist eine gute Beziehung. Das zeigt sich daran, dass beide immer Fragen an den anderen haben. Und je sicherer man sich fühlt, umso mehr zeigt man dem anderen, wie man wirklich ist. Dann stellt sich heraus, dass man anders ist als der andere…
Eine Frau erzählte mir, sie hätte ihren Ehemann am Abend vor der Hochzeit total schockiert, weil sie sagte: „Ich möchte, dass Du eines weißt: Ich heirate Dich nicht, um Dir zu gefallen und Dich glücklich zu machen! Überlege Dir das gut!“ Und dann verbrachten sie die Nacht vor der Hochzeit jeder bei sich zuhause in getrennten Betten. Am Hochzeitstag wäre er auf sie zugekommen und hätte ihr die Hand gegeben und sagte: „Ich habe es begriffen!“.
Was ist daran so wichtig? Man macht sich dadurch gegenseitig glücklich, dass man dem anderen erlaubt so zu sein, wie er ist. Dass man Freude daran hat zu entdecken, mit wem man eigentlich verheiratet ist. Das Gegenteil geschieht, wenn man von der Erwartung ausgeht, der andere müsste so sein, wie man selbst. Frauen meinen ja sogar, sie könnten ihre Männer erziehen! Solange man sich noch verstehen will, findet Austausch statt, ist die Beziehung – zumindest mental – intakt.
- Gemeinsames Anliegen – Sinnhaftigkeit
Das Zusammenleben muss Sinn machen. Wodurch wird das Ganze sinnhaft? Nicht dadurch, dass man sich gegenseitig glücklich macht, sondern indem man sich gemeinsam auf eine sinnvolle Aufgabenstellung hin orientiert, dass man etwas Drittes, ein gemeinsames Anliegen, hat, das einen verbindet. Man macht damit die Umwelt glücklich und hat selbst auch etwas davon. Wenn eine Beziehung ihren Sinn verloren hat, sollte man sie besser beenden. Oder schauen, wie man damit umgehen kann, dass sie wieder Sinn macht. Dieses Ringen zu spüren, ist für Kinder unendlich wertvoll, hilfreich und wichtig als Orientierung.
- Respekt vor der Freiheit des anderen – Handhabbarkeit
Hier geht es um den Respekt im Umgang miteinander, dass der andere sich frei fühlt, sich entfalten kann. In Bezug auf Kinder geht es darum, dass man ihnen den Raum so absteckt, dass sie sich darin ganz frei betätigen können.
Diese Art von Beziehungskultur – ich möchte sogar das Wort „Willkommenskultur“ verwenden – heißt das Kind willkommen und signalisiert ihm: Ich möchte Dich verstehen!
- 4. Ich-Aspekt – Orientierungslosigkeit
Nun zu dem gefährdeten Ich-Aspekt. Unsere Identität, die wir unserer Ich-Organisation verdanken, ist heute ebenfalls gefährdet: Viele Erwachsene stehen orientierungslos vor ihren Kindern, weil sie selber nicht wissen, wer sie sind und was das Ganze soll. Diese Orientierungslosigkeit ist erschreckend und trägt zum Anwachsen einer Kultur der Abhängigkeit bei. Denn wenn man nicht gelernt hat, Selbstständigkeit zu entwickeln, von sich selbst abzuhängen, hält man das Leben gar nicht aus, ohne von etwas anderem abhängig zu sein. Der Mensch ist auf Identifikation mit etwas hin veranlagt. Und er entwickelt nur dann ein gesundes Verhältnis zur Welt, wenn er sich mit sich selbst so identifizieren kann, dass er nicht von der Mitwelt abhängig ist, dass er sich auch nicht von ihr isoliert, sondern in einem atmenden, Bewusstsein stiftendes Verhältnis zu ihr pflegt. Das Thema Identität ist heute absolut vorrangig: Wie lebt man als Erwachsener eine gesunde Identitätssuche und -bildung vor?
- 5. Aspekt des leibfreien Denkens-Fühlens-Wollens – materialistische Ausrichtung
Wir denken ja mit unseren sich vom Leib emanzipierenden ätherischen Kräften, wir fühlen mit den sich wieder aus dem Leib emanzipierenden astralischen Kräften, und wir wollen (handeln) mit den aus den sich im Laufe der Entwicklung emanzipierenden Ich-Kräften. Wie wir mit dem geistig-seelischen Potential des Denkens, Fühlens und Wollens umgehen, ist eine Frage der Kultur: ob sie materialistisch, rational, von der Ökonomie oder Machtinstinkten bestimmt ist, ob sie Abhängigkeit fördert oder ob sie spirituell in den verschiedensten Nuancen ist. Das sind große Fragen, auch im Hinblick auf die heutigen Ausbildungen.
Die Kindheit ist am stärksten gefährdet durch eine materialistische Gesinnung, durch Orientierungs¬losig¬keit, durch fehlende Beziehungsqualität, durch „Verplantheit“ und Vermarktung.
Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015