Die Welt, aus der die Kinder kommen

Wie lässt sich die Welt der geistigen Hierarchien, aus der die Kinder kommen, beschreiben?

Was verdanken wir Menschen diesen Geistwesen?

Welche Bedeutung haben sie für die Kinder?

Notwendiges Geist-Erinnern

Wenn man Kinder erziehen will – je kleiner, desto mehr – ist die Rückbesinnung und das aktive Sich-Verbinden mit der geistigen Welt, aus der sie kommen, eine Notwendigkeit. Im Grundsteinspruch der Anthroposophischen Gesellschaft1 spricht Rudolf Steiner von „Geist-Erinnern“ (vgl. Freie Hochschule für Geisteswissenschaft: Der Grundsteinspruch/).

Kinder haben noch einen unmittelbaren Bezug zu ihrem himmlischen Ursprung, in den sie ein starkes Vertrauen setzen, ein Vertrauen das sie über die Schwelle mitbringen. Sie „wissen“ noch, wie diese Hierarchien den Körper aufgebaut und die Wesensglieder geformt haben, die sich im Laufe der Entwicklung befreien und zum individuellen Seelenleben werden.

Was wir mit den Naturreichen gemeinsam haben

Der frühmittelalterliche Mönch Scottus Erigena hatte im Umgang mit seinen Studenten bereits einen sehr modernen dialogischen Lehrstil. Er stellte ihnen Fragen, auf die sie im Rahmen von Debatten Antworten finden sollten, z.B.:

  • Was hat der Mensch mit dem Mineralreich gemeinsam? – den physischen Leib.
  • Was hat der Mensch mit dem Pflanzenreich gemeinsam? – das Leben.
  • Was hat der Mensch mit dem Tierreich gemeinsam? – die Seele.
  • Was hat der Mensch mit den Engeln gemeinsam? – das Denken.
  • Welche Entwicklungserrungenschaft hat der Mensch nur für sich? – das selbständige Urteil.

Das Wort Ur-teil beinhaltet das Bewusstsein, dass der Mensch ein Teil vom Ursprung ist, dass alles, was in der Schöpfung wie zerlegt und auseinandergenommen ist – alle Objekte, alle Handwerke, die verschiedenen Menschen und … und … und… – als Anregung dienen soll, es zu beur-teilen (nicht verurteilen!) und dadurch zu verstehen. Zu urteilen bedeutet im höchsten Sinne, einen Zusammenhang zum Ganzen herzustellen, etwas im Gesamtzusammenhang in seinem Wert und seiner Würde zu sehen. Das erstreckt sich auch auf das Menschenwesen selbst. Denn erst wenn der Mensch sich als Teil der ganzen Schöpfung erkennt, gewinnt er seine Würde zurück und gibt der Schöpfung damit seinen Dank und Segen zurück. Das ist etwas, das nur der Mensch leisten kann: Das Teil durch bewusstes Urteilen mit seinem Ursprung zu verbinden.

Was wir den geistigen Hierarchien verdanken

Rudolf Steiner setzt das ja dann fort:

  • Gemeinsamkeit von Mensch und Erzengel – das Gefühlsleben

Was hat der Mensch mit den Erzengeln gemeinsam?

Es gibt zweierlei Arten von Gefühlen, je nachdem, mit welchen Bereichen in uns sie verbunden sind:

  • Es gibt die aus dem Körper stammenden Gefühle, die wir mit den dämonischen, gefallenen Erzengeln teilen. Diese Gefühle kommen aus dem Instinkt, der von der Vergangenheit geprägt ist, und haben mit den Blutsbanden zu tun. Sie motivieren faschistische, nationalistische, familiengruppen-egoistische Gruppierungen.

  • Die mit dem Denken verbundene Gefühle folgen den christlichen Ur-Idealen – Wahrheit, Freiheit und Liebe – von denen viele der neuen Gemeinschaften motiviert sind, die mit den entsprechenden Erzengeln verbunden sind. Hier schließen sich selbstständige Menschen über persönliche Differenzen hinweg zu zukunftsweisenden Zielen zusammen. Ideale sind Botschaften von Gott, die uns von den Engeln überbracht werden und die uns mit IHM verbinden – Angelos heißt ja Bote.

Jesus sagt: „Ich bin die Wahrheit – und die Wahrheit wird euch frei machen.“2 Er sagt an keiner Stelle: Ich bin die Freiheit. Denn die muss jeder Mensch selbst erringen. Er sagt jedoch: „Ich bin unter euch, wenn ihr euch liebt.“ Das sind Botschaften, die uns über die Engel zukommen und die den Menschen kräftigend durch sein ganzes Leben tragen können, wenn er sich damit verbindet. Solch eine Engelbotschaft gibt Kraft, die Tragekraft guter Gedanken. Wenn sich nun eine Menschengemeinschaft für solche Gedanken begeistert und sich damit verbindet, kann ein Erzengel diese Gemeinschaften stärken und viele soziale „Unebenheiten begradigen“ und so alles wie in eine andere Sphäre erheben.

  • Gemeinsamkeit von Mensch und Archai – das Wollen

Was hat der Mensch mit den Zeitgeistern, den Archai, gemeinsam?

Wenn aus solchen Idealen und Gefühlen auch gute Taten werden, erweisen wir der Zeit, in der wir leben, einen guten Dienst. Dann rufen wir den richtigen Zeitgeist oder Archai herbei und fördern kulturellen Fortschritt.

Das ist, worum Neil Postman so gerungen hat: Er wendete sich an die Eltern und sagte: Widersetzt euch zum Schutze eurer Kinder! Entwickelt guten Willen! Stählt euren Willen am Widerstand.3 Das ist echte Zeitgenossenschaft, ist für eine lebenswerte Zukunft der Menschheit engagierte Zeitgeistigkeit.

  • Gemeinsamkeit von Mensch und Exusiai (Elohim) – das Identitätsbewusstsein

Was hat der Mensch mit den Geistern der Form, den Exusiai, gemeinsam?

Die Elohim, die Geister der Form, haben uns das Ich verliehen, die Ich-Organisation. Sie bliesen uns aber auch den Odem, den Atem, die Atemkraft ein. Wir erleben beim Atmen: Der Lebensodem geht hinaus und kehrt wieder zurück. Das ist die archetypische Grundlage für das Erleben von Identität: Was von mir hinausgeht und zurückkommt, bin beides ich – ich bin ich.

Christus dagegen erfüllt das Gefäß der Ich-Organisation mit dem wahren Ich, unserem höheren Selbst. Dass wir die Ich-Organisation dafür haben, verdanken wir den Geistern der Form. Sie haben unsere Identität als Potenz, als Möglichkeit, geformt. Doch jeder Mensch muss diese Identität selbst bestimmen, muss für sich individuell die Frage beantworten: Wer bin ich? Eine gute Kindheit, die das Kind zu einem individuellen Menschen heranreifen lässt, hilft, den Weg dafür zu bereiten.

  • Gemeinsamkeit von Mensch und Dynamis – die Bewegungskompetenz

Was hat der Mensch mit den Geistern der Bewegung, den Dynamis, gemeinsam?

Die Geister der Bewegung, die Dynamis, haben uns auf physischer Ebene den Kreislauf geschenkt. Der Bewegung des Kreislaufs entspricht seelisch die Flexibilität. Dazu gehört, dass wir unsere Seele, unser Denken, Fühlen und Wollen, unsere Fähigkeiten, die wir erworben haben, flexibel handhaben und instrumentalisieren können.

Das bedeutet auch, einerseits fähig zu sein, das Kind dahingehend zu beobachten, was es braucht, und andererseits flexibel genug zu sein, ihm Selbstlernen zu ermöglichen. Rudolf Steiner sagt sinngemäß, alle Erziehung sei, richtig verstanden, Selbsterziehung. Der Erzieher könne nur die möglichst adäquate Umgebung gestalten, damit das Kind sich daran so selbst erzieht, wie es sich nach seinem innersten Schicksal erziehen kann und muss.4 Wir können Angebote machen für die Selbsttätigkeit des Kindes, aber wir können ihm nichts beibringen! Wir können es nur anregen zur Selbsttätigkeit.

Diese Haltung, sich selbst so beweglich, so „flüssig“, zu machen wie die Dynamis, dass man mit den eigenen Fähigkeiten spielen kann, erwirbt ein Kind, indem der Erzieher ihm genauso begegnet: So lernt es, sich daran zu orientieren und lernt selbst zu definieren, was und wie er oder sie es braucht.

  • Gemeinsamkeit von Mensch und Kyriotites – die Verwandlungskraft

Was hat der Mensch mit den Geistern der Weisheit, den Kyriotetes, gemeinsam?

Den Geistern der Weisheit verdanken wir im Physischen den Stoffwechsel. Ihm entspricht seelisch die Verwandlungskraft. Wenn wir etwas selbst erlebt und erfahren haben, verwandelt sich das Wissen in uns zu Weisheit – das ist eine Art Transsubstantiation, eine Verwandlung im wahrsten Sinne des Wortes.

  • Gemeinsamkeit von Mensch und Throne – die Sehnsucht nach Menschlichkeit

Was hat der Mensch mit den Geistern des Willens, den Thronen, gemeinsam?

Den Thronen, den „Geistern des Willens“, verdanken wir den Willen, immer mehr Mensch zu werden, uns immer mehr zu „humanisieren“. Dem entspringen die Lernbegierde, der Lerntrieb, und der Entwicklungswille des Menschen.

  • Gemeinsamkeit von Mensch und Cherubim – das Gewissen

Was hat der Mensch mit den Geistern der Harmonie, den Cherubim, gemeinsam?

Mit dieser Gabe der Cherubim ist unser Bestreben gemeint, immer für den gerechten Ausgleich zu sorgen, indem wir auf die Gewissensstimme als auf die Ausgleich schaffende Instanz in uns zu hören und sie von dem automatisch reagierenden „guten“ und „schlechten“ Gewissen unterscheiden zu lernen. Denn das feine „cherubinische Gewissen“ meldet sich nicht von selbst, es drängt sich nicht auf, sondern will befragt werden (vgl. Konfliktfähigkeit: Die Gewissensstimme): Was braucht die Situation? Was brauche ich, um es besser zu machen? Was braucht dieses Kind? Unser schlechtes und unser gutes Gewissen dagegen drängen sich uns geradezu auf. Dabei habe ich eine geschlechterspezifische Eigenart entdeckt:

  • Frauen haben spontan immer ein schlechtes Gewissen.
  • Männer dagegen haben spontan immer ein gutes Gewissen.

Um das auszugleichen, sollte der Mann lernen, sein Gewissen mehr zu hinterfragen und die Frau sollte sich angewöhnen, alles lockerer zu nehmen. Wir müssen mit beiden Polen umgehen und dadurch sensibel werden für die aus der Mitte kommende Gewissensstimme, die nur spricht, wenn wir sie befragen. Sie wird inspiriert von den Cherubim als den Geistern der Harmonie.

  • Gemeinsamkeit von Mensch und Seraphim – die Liebe (zum Schicksalsweg)

Was hat der Mensch mit den Geistern der Liebe, den Seraphim, gemeinsam?

Den Seraphim verdanken wir das Urvertrauen in die Schöpfung als in einen Kosmos, der mit Liebe durchdrungen ist. Von ihnen kommt uns aber auch das vertrauensvolle Wissen um unser persönliches Schicksal zu. Beides lässt uns aus allem, was uns zustößt, lernen und versetzt uns in die Lage, das Beste daraus zu machen, ohne zu verzagen. Diese Geister der Liebe als höchste Hierarchie stehen unmittelbar vor dem Angesicht Gottes.

Fazit:

All diese Engeltugenden helfen uns aufzublicken zu der Welt, aus der die Kinder kommen. Wenn wir Erwachsene uns durch diese „Schlüsselqualitäten“ menschlicher Kultur mit den Hierarchien der himmlischen Welten in Verbindung halten, dann erinnern sich die Kinder an die Welt, aus der sie kommen, und fühlen sich geistig zuhause bei uns.

Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015

  1. Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a, Dornach 1987.
  2. Neues Testament, Johannes 8, 32.
  3. Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Fischer Verlag.
  4. Rudolf Steiner, Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis. GA 306, Dornach 1923, S. 131.