Kindheit in Gefahr

Welche Faktoren gefährden die Kindheit als solche?

Was macht die Kindheit zu solch einem bedeutsamen Entwicklungszeitraum?

Kindheit als Möglichkeit, zu sich selbst zu finden

Neil Postman, der Autor von „Das Verschwinden der Kindheit“,1 zog Anfang der Achtziger Jahre eine Art Bilanz der Kultur Amerikas. Er stellte fest, dass es das Phänomen Kindheit erst seit dem 16. Jahrhundert gibt und zu seiner Zeit noch gar nicht global anerkannt wurde. Nur in Amerika und Europa begriff man Kindheit erstmals in der Geschichte als bedeutsame Phase der Individualisierung: Kindheit gibt den Kindern als Entwicklungsraum die Möglichkeit, sich selbst zu finden und zwingt sie nicht von vornherein,

  • sich an die Gegebenheiten der Familie anzupassen,
  • Angst zu haben vor den Erwachsenen, den Eltern, dem Lehrer, dem Pfarrer,
  • sich mehr oder weniger wie ein Hund abrichten zu lassen, stramm zu stehen
  • Elterntraining: Das ist heute von immenser Bedeutung. Denn sehr oft schürt oder verstärkt das Elternhaus die Ängste des Betroffenen.
  • und so mehr oder weniger ein Gruppen- und Obrigkeitsbewusstsein zu entwickeln.

In der Neuzeit gibt es zum Glück immer mehr Menschen, die sagen: „Wenn ich Kinder habe, will ich es anders machen! Ich möchte, dass sie sie selbst sein dürfen!“ Dass das etwas wirklich Neues ist, das mit der Neuzeit zusammenhängt, darauf macht Neil Postman aufmerksam.

Neue gesellschaftliche Konditionierungen

Gleichzeitig ist Neil Postman aber sehr besorgt, dass die neuen Kulturgewohnheiten – vor allem die Sexualisierung der Gesellschaft über Werbung, Filme und eigenes Beispiel – sich derart auf die Kinder auswirken, dass sie wieder zu kleinen Erwachsenen gemacht und in ganz bestimmte Konditionierungen gezwungen werden. Er zieht am Ende seines Buches eine Art Bilanz, die ich zitieren möchte:

„Dennoch, es gibt Eltern, die sich darauf eingelassen haben, dieser Entwicklung, den Anweisungen der heutigen Kultur zu trotzen. Diese Eltern verhelfen ihren Kindern nicht nur zu einer Kindheit. Sie schaffen zugleich auch eine Art von intellektueller Elite. Auf kurze Sicht nämlich werden Kinder, die in solchen Verhältnissen aufwachsen, größere Chancen im Geschäftsleben, in den freien Berufen, und sogar in den Medien haben. Und was lässt sich über die längerfristige Entwicklung sagen? Wohl nur dieses: Eltern, die sich dem Zeitgeist widersetzen, tragen zur Entstehung eines ‚Klostereffektes‘ bei, denn sie helfen mit, die Tradition der Humanität wachzuhalten. Es ist nicht vorstellbar, dass unsere Kultur vergisst, dass sie Kinder braucht. Aber, dass diese Kinder eine Kindheit brauchen, das hat unsere Kultur schon halbwegs vergessen. Jene, die sich weigern zu vergessen, leisten einen kostbaren Dienst.“

Anstelle von Eltern kann man auch Erzieher und Erziehrinnen sagen. Es ist wunderbar, dass immer mehr Männer, nicht nur Frauen, sich entschließen, den Erzieherberuf zu ergreifen.

Daten aus der Forschung

„Kinder heute sind aggressiv oder scheu, scheinen überfordert oder traurig, immer öfter stellen Ärzte psychische Auffälligkeiten fest, jeder 5. der jungen Patienten ist betroffen. Die meisten bleiben unbehandelt – doch Vorbeugung wäre möglich.“

Die WHO hat 2015 Zahlen zur posttraumatischen Belastungsstörung veröffentlicht: Weltweit, in allen Kulturen, kommt es zu 10% an traumatischen Ereignissen (vgl. Trauma – Ursachen und Behandlung: Verarbeitung von Gewalt und Krieg). Auf die Gesamtbevölkerung umgelegt, handelt es sich dabei um:

  • 22% Gewalt
  • 17% Unfälle
  • 16% Krieg

Was mich sehr gefreut hat – es gibt jetzt eine Präventionsprogramm zur Behandlung von Bindungsstörungen Namens SAFE (= sichere Ausbildung für Eltern). Im letzten Teil dieser Betrachtung wird uns die Frage beschäftigen, was sich an unseren Ausbildungen ändern bzw. intensivieren muss und wie wir Präventionsprogramme gerade auch für Eltern anbieten können.

Weitere Zahlen der WHO belegen: Eines von 5 weiblichen, eines von 13 männlichen Kindern hat sexuelle Gewalt erlitten. Das wird auch immer mehr zum Thema (vgl. Trauma – Ursachen und Behandlung: Hilfe in einer traumatisierenden Zeit).

Pädagogen als nüchterne Vorbilder gefragt

In den USA wurde in einigen Bundesstaaten Marihuana legalisiert. Anlässlich meiner letzten Reise in den Staaten wurde ich daraufhin gefragt, ob es ginge, dass ein Lehrer Marihuana raucht. Ich konnte darauf nur antworten, dass das nicht ginge. Im Vertrag muss das als Grund für eine fristlose Kündigung gelten.

Als ich Mitte der Neunziger Jahre an der nordischen Kindergartentagung teilnahm, war es völlig normal, dass am bunten Abend Sekt getrunken wurde. Ich saß mit wenigen Leuten an dem Tisch, wo es Sprudel und Saft gab. Da sagte dann eine Kindergärtnerin zu mir: „Das ist bei uns im Norden so!“ Worauf ich sagte: „O.k., aber gut ist das nicht!“ Nicht alles, was üblich ist und für normal gehalten wird, ist gut. Warum? Die Tatsache, dass man als Pädagoge und Vorbild ständig freiwillig seine Leber schädigt, ist das eigentliche Problem, nicht der Alkohol selbst.

In der Medizin weiß man mittlerweile: Wenn Leitung oder Mitarbeiter einer Entzugsklinik selbst trinken – und sei es nur ihr Gläschen Wein –, ist die Rückfallquote signifikant höher als in Einrichtungen, wo die Angestellten ganz bewusst darauf verzichten. Durch solche Statistiken kommt ins Bild, dass unsere Handlungen eine Wirkung haben (vgl. Erziehung: Erziehung und Vorbild): Es ist nicht egal, was wir denken, fühlen und tun! Je kleiner Kinder sind, desto mehr bekommen sie alles mit, weil sie noch viel intuitiver mit uns verbunden sind.

Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015

  1. Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Fischer Verlag.