Gelingende Kindheit durch Schicksalsvertrauen

Wie kann Schicksalsvertrauen auch in schwierigen Zeiten und Lebenssituationen veranlagt werden?

Welche Rolle spielt dabei die Bindung an die Mutter bzw. an eine andere Bezugsperson?

Hospitalismus-Forschung und Bindung

Von den Möglichkeiten her ging es Kindern noch nie so gut wie heute. Wir haben Schulen selbst für Gehörlose, wir haben Schulen für Blinde und für Menschen mit allen Arten von geistiger und körperlicher Behinderung. Wir wissen heute sehr viel über die kindliche Entwicklung. Was Hirnforschung, Vererbungsforschung und Verhaltensforschung in den letzten fünfzig Jahren zutage gefördert haben, ergibt Erkenntnisse, die – in die Tat umgesetzt, Kindern zu einem aussichtsreichen Start in das Leben verhelfen können.

Allein die Hospitalismus-Forschung – allen voran René Spitz – hat viele wertvolle Erkenntnisse erbracht. Sie hat die Anschauung über das Aufwachsen in den ersten drei Lebensjahren revolutioniert und Grund gelegt für alle weiteren Studien zur frühen Kindheit.1 Die Kernaussage ist, dass Kinder nicht gedeihen, wenn ihnen eine sichere menschliche Bindung fehlt.

Dieser Mangel führt insbesondere in den ersten drei Lebensjahren nicht nur zu schweren seelischen, sondern auch zu tiefgreifenden körperlichen Störungen. Beim Fehlen einer konstanten Bezugsperson kommt es innerhalb von zwei bis drei Monaten z.B. bei Säuglingen im ersten Lebensjahr zum Entwicklungsstillstand. Es folgt eine Zeit ängstlichen Anklammerns an die wechselnden Betreuungspersonen. Schließlich weicht das weinerliche Verhalten einer zunehmenden Teilnahmslosigkeit. Lethargie, Wimmern, Kopfschaukeln, Schlaflosigkeit und Anfälligkeit für Infektionen treten auf. Diese Störungen können so gravierend werden, dass sie sogar zum Tode führen.

Erziehungsauftrag und Schicksal

Gerade diese Hospitalismus- und Deprivationssymptome zeigen deutlich, dass sich die leibliche Entwicklung des Menschen nicht nur aufgrund von Vererbung und guter Ernährung vollzieht, sondern in Abhängigkeit von der seelisch-geistigen Zuwendung zur Persönlichkeit des heranwachsenden Kindes. Wird diese nicht angenommen, bejaht und angesprochen, so kann sie nicht „ankommen“, sich nicht richtig „verkörpern“.

Diese Zuwendung zum Kind, die ihm das Gefühl angenommen zu sein gibt, kann dadurch noch eine Vertiefung erfahren, dass leibliche oder Adoptiveltern sich die Dimensionen ihres Erziehungsauftrages bewusst machen und die Frage nach der geistigen Wirklichkeit des Schicksals stellen:

Warum hat mir das Schicksal gerade dieses Kind zur Obhut gegeben?

Hat es sich vielleicht schon lange im Vorgeburtlichen diese Begegnung gewünscht?

Was können wir einander bedeuten?

Was erwartet es von mir für seinen Start ins Leben?

Wenn man davon ausgeht, dass jede Beziehung Teil einer umfassenden Schicksalskonstellation ist, die ihre Wurzeln in früheren Erdenleben hat und die in der Gegenwart erneuert und weiterentwickelt werden will, gibt jeder Tag von Neuem die Möglichkeit, das Schicksal bewusst zu gestalten und die Zukunft gut vorzubereiten.2 Die Art der Beziehung, ihre Verbindlichkeit im Hier und Jetzt, ihr Gegründet-Sein in einem umfassenden Schicksalsvertrauen, das es zu erringen und zu pflegen gilt, bestimmt die Qualität der Erziehung entscheidend mit (vgl. Kindsein heute: Resilienz trotz Risiko).3

Kindheit in der Nachkriegszeit

Ich bin Jahrgang 1946, wuchs in der Nachkriegszeit auf, in einem Szenario von zerbombten Häusern – ganze Straßenzeilen in Stuttgart waren nach dem Krieg plattgemacht worden – ein zerbombter Luftschutzbunker befand sich ganz in der Nähe. Wir spielten in Ruinen und sahen die ersten Huflattiche kommen. Alles war durchsetzt von Bildern der Zerstörung, das Fernsehen war noch nicht erfunden, man las aber Zeitung, hörte Radio und sah und hörte viel vom Krieg. Ich hatte als Kind den Eindruck: Diese Welt ist gefährlich, in dieser Welt geht viel kaputt, in dieser Welt gibt es unglaubliche Katastrophen, da werden Millionen von Juden umgebracht. Davon hatten wir natürlich auch gehört. Das war für mich als Kind nur ganz schwer einzuordnen.

Meine Mutter war Diplomchemikerin und hatte sechs Geburten. Für mich als Nachkriegskind war die Tatsache, dass meine Mutter darauf verzichtet hatte, ihren Beruf auszuüben und sich ganz der Kindererziehung zur Verfügung stellte, extrem wichtig (vgl. Biographiearbeit: Die Rolle der Eltern in der Biographie). Sie half mir inmitten der geschilderten Verhältnisse Vertrauen ins Leben zu entwickeln, indem sie mir mit ihrer Haltung und durch viele Gespräche half, all das Beunruhigende einzuordnen, damit sinnstiftend umzugehen. Ich weiß aus dieser Erfahrung, was es bedeutet, dieses hohe Ausmaß an Vertrauen und Nähe zu erleben durch die Bindung an den Menschen, der mich geboren hat, in dem ich wachsen durfte, und von dem ich alles, was ich brauchte, bekam (vgl. Beziehung(sfähigkeit): Beziehung als Heilquelle).

Weiterführende Fragen zum Tag

Schicksalsvertrauen ist eine Frage der Haltung – und auch der Übung. Es kann bereits mit dem kleinen Kind geübt werden, bevor es in die Nacht entlassen wird. Man setzt sich an das Bettchen und fragt:

Wie war denn heute unser Tag?

Man kann mit dem Abend beginnen und die Geschehnisse bis zum Morgen rückwärts ins Gedächtnis rufen, man kann aber auch mit dem Morgen beginnen, das spielt zunächst keine Rolle. Man kann sich auch fragen:

Was war heute das Schönste am Tag?

Was hat uns heute den meisten Kummer gemacht?

Man lässt es nochmals an sich vorüberziehen, und das, was schwer zu verkraften war, versucht man für sich selbst aufzuarbeiten, indem man fragt:

Was kann ich daraus lernen?

Wozu war es vielleicht auch gut?

Im Märchen ist oft der Dummling derjenige, dem am Schluss das Glück lacht, weil er etwas, das ihm unterwegs begegnet war, mitnimmt mit dem Gedanken: Wer weiß, wozu das gut ist! So kann man auch mit dem umgehen, was der Tag gebracht hat und was man vielleicht furchtbar findet oder dumm oder ungerecht. Man sollte dann versuchen zu fragen:

Warum geschah es mir?

Was hat es mit mir zu tun?

Welche Botschaft hat das Ereignis für mich?

Was will es mich lehren?

Wer weiß, wozu es gut war?

In Weisheit verwandelte Erfahrung

Das Leben zeigt uns oft, dass etwas, was in einem bestimmten Lebensalter Stress verursachte, fünf, zehn oder fünfzehn Jahre später sich in Weisheit verwandelt hat, aufgrund derer man anderen Menschen beistehen kann oder die einen das Leben viel ruhiger betrachten lässt.

Die Ereignisse im täglichen Leben bleiben nicht so, wie sie im ersten Moment erscheinen. Das zeigt sich, wenn man ein bisschen offen ist und versucht, sie vor dem Hintergrund des Entwicklungsgedankens aus der Distanz zu betrachten (vgl. Biographiearbeit: Rückschau auf das eigene Leben). Das wird in vielen Fällen nicht sofort gelingen, kann aber dennoch ein hilfreicher Gedanke sein.

Was oft im späteren Leben über eine Therapie erarbeitet werden muss, z.B. dass Menschen lernen müssen, miteinander in Kontakt zu treten, miteinander zu reden, einander ernst zu nehmen und auszuhalten, wird hier selbstverständlich veranlagt und kann zu einer Gewohnheit werden, die einem später hilft, mit dem Lebenspartner Gespräche zu führen, sodass nichts Wesentliches liegen bleibt, sich nichts aufstaut oder unverarbeitet „rumort“.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003

  1. René Spitz, Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr, 10. Aufl. Stuttgart 1992; und: Die Entstehung der ersten Objektbeziehungen, 5. veränd. Aufl. Stuttgart 1992.
  2. Vgl. Michaela Glöckler, Begabung und Behinderung. Hinweise für Erziehung und Schicksalsfragen, Praxis Anthroposophie, 2. Aufl. Stuttgart 1999.
  3. Siehe Michaela Glöckler, Wolfgang Goebel, Kindersprechstunde. Ein medizinisch-pädagogischer Ratgeber, 13. Aufl. Stuttgart 1998.