Goethes Faust und die Wesensglieder

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Goethes Faust, den Elementen und den Wesensgliedern?

Wodurch erkennt man diesen Zusammenhang?

Thematische Ausrichtung der einzelnen Akte von Faust I und II

Goethe widmet Faust I und Faust II den vier Elementen und dem, was sie für die Entstehung und die Entwicklung des Menschen bedeuten. Insofern geht es auch um die Wesensglieder des Menschen (vgl. Wesensglieder: Grundlegendes zum Thema Wesensglieder). Das ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, man merkt es aber spätestens im zweiten Akt des zweiten Teils.

  • 1. Hälfte, 1. Akt – biografischer Handlungsstrang

Der erste Teil des 1. Aktes ist mehr individuell biografisch zu verstehen. Er endet mit einem toten Kind, einer todesnahen Mutter und dem sterbenskranken Faust. Alle, Vater, Mutter, Kind, sind total am Ende. Gefängnis, Todesnähe, Mord. Eine destruktive Beziehung, die in eine Katastrophe geführt hat.

  • 2. Hälfte, 1. Akt – physischer Leib

Der zweite Teil des ersten Aktes beginnt jedoch mit einer Heilung: Faust richtet sich dank seiner gesunden Natur wieder auf. Der physische Leib wird wieder hergestellt.

Dem folgt die Szene im Kaiserpalast, anschließend die Arielszene, in der es um Geld geht, um Grund und Boden, um Besitz, also ums Physische. Ein ganzer Akt ist dem Thema des Physischen gewidmet (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des physischen Leibes). Hier ist der Bezug zu den Wesensgliedern bereits zu erkennen.

  • 2. Akt – Ätherleib

Der zweite Akt ist der längste und der unverständlichste von allen. Da wimmelt es von Nymphen, Meriden, Tritonen, Sirenen, Sphinxen. Alles, was in der griechischen Mythologie Rang und Namen hat, kommt darin vor, aber auch Ameisen und Daktylen, also einzelne Finger. Es ist ein einziges Gewimmel. Die gesamte ätherische Welt tritt auf, um Homunculus, diesem Menschenwesen aus der Phiole, das im Labor konstruiert wurde, das lebendige Umfeld zu bieten, das ihn zu einem Teil des wirklichen Lebens macht. Denn kein Lebewesen ist ohne Umkreis lebensfähig.

So kann man den zweiten Akt mit der ätherischen Welt in Verbindung sehen (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des Ätherleibes). Der Homunculus bekommt einen lebendigen Umkreis, die Phiole zerschellt und er wird in die Elemente herein erlöst. D.h., er wird von den Elementen ergriffen und kann dadurch Mensch werden. Der ganze zweite Akt ist der Menschwerdung aus dem Ätherischen gewidmet.

  • 3. Akt – Astralleib

Der dritte Akt mit Helena und Faust spricht vom Astralleib, von Sprache, Schönheit und Beziehung. Diese Themenkreise stehen alle in enger Beziehung zum Astralleib (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des Astralleibes).

  • 4. Akt – Ich-Leib

Der vierte Akt ist dem Ich gewidmet (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen der Ich-Organisation). Hier geht es erneut um Krieg: um die drei bösen Gesellen, Denken, Fühlen und Wollen als entartete Seelenkräfte, und das Ich. Das Ich muss lernen, sie zu beherrschen.

Dazu gehört auch, dass es Kaiser und Gegenkaiser gibt und dass das Prinzip der Selbsterkenntnis thematisiert wird: Erst als ein Gegenkaiser ihn bekämpft, sagt der Kaiser: Jetzt merk' ich erst, dass ich ein Kaiser bin. Das ist archetypisch für die menschliche Entwicklung. Wir erwachen oft erst am Widerstand zu unserer wahren Größe.

  • 5. Akt – Schwellenübertritt

Der fünfte Akt spricht über den Schwellenübertritt in die geistige Welt (vgl. Ethische Fragen: An der Todesschwelle).

Das Ringen um das Menschenrätsel sowie die Geschichte dieses Menschenrätsels sind die zentralen Themen von Faust I und II (vgl. Erzengel Raphael: Die raphaelische Signatur in Goethes Faust). Zunächst wird die Thematik mikrokosmisch aufgerollt, mit allen Gefährdungen, die damit einhergehen. Fausts Krisen gehen im Grunde zurück auf eine unbewältigte Jugendkrise, in der er nicht wirklich er selbst werden konnte. Deswegen musste er im Rahmen einer Art Midlifecrisis erneut auf die Suche nach seinem Selbst gehen (vgl. Selbstbewusstsein: Selbstbewusstsein durch Auseinandersetzung und Identifikation).

Vgl. Vortrag „Die vier Wesensglieder – die vier Elemente – die vier Temperamente“, Dornach 2015