Die Wesensglieder als Gesetzeszusammenhänge
Wie lassen sich die Wesensglieder des Menschen beschreiben?
Was ist mit Doppelnatur der Wesensglieder gemeint?
Wie wirken sie im leibgebundenen und im leibfreien Zustand?
Beschreibung der Wesensglieder als Gesetzeszusammenhänge
Im 1. Kapitel des Grundlagenwerkes Anthroposophischer Medizin, „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst...“,1 das von Rudolf Steiner und Ita Wegman gemeinsam verfasst wurde, werden die Wesensglieder des Menschen als Zusammenhänge von jeweils unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten beschrieben:
- A) GESETZMÄSSIGKEITEN DES PHYSISCHEN LEIBES
Der Begriff des physischen Leibes wird als ein Zusammenhang von Gesetzen beschrieben, durch die die körperlich-materielle Raumgestalt des Menschen möglich wird mit einem individuellen Schwerpunkt, der den Zentralkräften, der Gravitation, unterliegt (vgl. Gottebenbildlichkeit des Menschen: Die Gottebenbildlichkeit des physischen Leibes).
- B) GESETZMÄSSIGKEITEN DER ÄTHERISCHEN ORGANISATION
Die ätherische Organisation hingegen umfasst als Gesetzeszusammenhang die Lebenszeit des Menschen, sein Werden und Vergehen im Raum und ist in sich rhythmisch-prozessual konfiguriert (vgl. Natur und Kosmos: Lebensvorgänge und kosmische Rhythmen). Polar zu den Gravitations- oder ‚Zentralkräften’ handelt es sich bei den ätherischen Kräften um solche des Auftriebs, der Leichte.2 Sie wirken nicht punktorientiert von einem Zentrum aus, sondern greifen peripherisch-flächenhaft an (vgl. Doppelnatur des Ätherischen: Das Ätherische in der Welt kennenlernen). Bei jeder Wundheilung kann man z.B. beobachten, dass diese von den Wundrändern her erfolgt.
Man kann auch feststellen, dass sich die mineralischen Substanzen anders verhalten als im physischen Kraftfeld, sobald sie in diesen ätherischen Kräftebereich einströmen und sich von diesem beherrschen lassen.3 Insofern ist der Ätherleib einem plastisch-bildenden Künstler vergleichbar.4
Doppelnatur des Ätherischen
Es gehört zu den großen Entdeckungen Rudolf Steiners, dass die Lebens- und Gedankenprozesse einen gemeinsamen ätherischen Ursprung haben (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des Ätherleibes):
- dass die leibgebundenen Kräfte, die den Lebensprozessen des Körpers zugrunde liegen
- zugleich die Kräfte sind, die leibfrei geworden unser Denken ermöglichen.
Im 1. Kapitel von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“ konkretisiert Steiner diesen Zusammenhang: „Es ist von der allergrößten Bedeutung zu wissen, dass die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen die verfeinerten Gestaltungs- und Wachstumskräfte sind. Im Gestalten und Wachsen des menschlichen Organismus offenbart sich ein Geistiges. Denn dieses Geistige erscheint dann im Lebensverlaufe als die geistige Denkkraft.“5
Die Kräfte, die der von der Embryonalentwicklung an zu beobachtenden Lebenstätigkeit zugrunde liegen, emanzipieren sich laut Steiner fortwährend im Laufe von Wachstum und Entwicklung und treten dann als leibfreies selbstgesteuertes Gedankenleben zutage.
- C) GESETZMÄSSIGKEITEN DER ASTRALISCHEN ORGANISATION
Auf dem Weg der inneren Schulung kann man sich auch diese astralischen Kräftewirkungen schrittweise immer tiefer bewusst machen (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des Astralleibes):
Schritt: Man bemüht sich, die gedankliche Imaginationsaktivität zu unterdrücken und so absolute Leere des Bewusstseins herzustellen.
Schritt: Gelingt dies auch nur ansatzweise, so erlebt man rein ‚fühlende’ Wachsamkeit ohne jeden (Gedanken-)Inhalt.
Schritt: Jetzt können Inspirationen auftreten und wahrgenommen werden als geistig akustische Eindrücke, die sich zu konkreten Wort-Botschaften verdichten können (vgl. Wille(nsschulung): Aufbau der Willensstufen aufeinander ).
Der Astralleib wird durch diesen Prozess schrittweise in seiner Eigengesetzlichkeit erlebbar. Rudolf Steiner sagt im Kontext seiner Vorträge über Musik und Pädagogik,6 dass er seiner Substanz nach musikalisch-diskontinuierlich konfiguriert ist.
Doppelnatur des Astralischen
- a) Leibgebundene Kompetenz – Differenzierung der Zellen und Organe
Der Astralleib hat analog zu den ätherischen Kräften ebenfalls eine Doppelnatur. Er besorgt im lebendigen Organismus die Differenzierung der Zellen und Organe. Ein markanter Endpunkt dieser Tätigkeit ist der Abschluss der Pubertät und die Ausdifferenzierung der männlichen und weiblichen Konstitution.
- b) Leibfreie Kompetenz – Fähigkeit des Abwägens
Ist dieses geleistet, können die jetzt nicht mehr für die körperliche Differenzierungsarbeit benötigten Kräfte außerkörperlich tätig werden. Sie ermöglichen jene fein abwägende, differenzierende Gefühlstätigkeit, die im Zuge der Pubertät auftritt. Im Unterschied zur triebhaft-leibgebundenen Emotionalität ist das vom Leib emanzipierte leibfreie Fühlen auch zu selbstloser Empathie fähig. Dadurch ist es in der Lage, sich eng mit dem Denken zu verbinden bis hin zur Ausbildung von ‚Wahrheitsgefühl’ und der sensiblen sympathisch-antipathischen Fähigkeit des Abwägens, die Grundlage jeder reifen Urteilsbildung ist. Die Entwicklung einer solchen Gefühlsausrichtung und Empathie-Fähigkeit zu unterstützen, ist vornehmste Aufgabe der Pädagogik (vgl. Gefühle und Fühlen: Gefühl und Wesensglieder). Dabei spielen die künstlerischen Tätigkeiten eine herausragende Rolle.7
- D) GESETZMÄSSIGKEITEN DER ICH-ORGANISATION
Werden die empfohlenen Übungen weiter fortgesetzt, so kann auch die Doppelnatur der Ich-Organisation bewusstwerden (vgl. Wesensglieder: Die Metamorphose der Wesensglieder in leibfreies Denken, Fühlen Und Wollen):
Mit ihrem leibgebundenen Anteil ist sie für den Bau der Gesamtgestalt verantwortlich – ist sozusagen reine Integrations- und Gleichgewicht herstellende Ordnungskraft.
Ihr leibfreier Anteil wird erst vollgültig seelisch verfügbar, nachdem der Körper ausgewachsen ist. Diese seelische Verfügbarkeit wird dann im gewöhnlichen Leben als freier Wille, als Potential, aus freien Stücken zu handeln, erlebt. Der freie Wille zeigt sich in jeder Form bewusster Selbsterziehung, Charakterbildung und Willensdisziplin.
Je mehr sich der einzelne Mensch im leibfreien Gedanken- und Gefühlsorganismus seines Denkens und Fühlens seiner selbst bewusstwird, umso klarer kann er sich selbst als außerkörperlich existierendes rein geistiges Ich-Wesen erleben, das seine Willensfreiheit in der Verantwortung für sich und seine Entwicklung ausübt (vgl. Geist und geistiges Wesen: Eigener Zugang zum Geistigen). Indem man so das eigene Denken, Fühlen und Wollen durch die Ich-Kraft geistig zu führen lernt, werden diese Seelenfähigkeiten entsprechend weiterentwickelt. Das kann zu einer dritten Erkenntniserfahrung führen, zu einer Art geistigem Handlungsimpuls: der Intuition.
Niederes und höheres Selbst
Wenn Friedrich Schiller seinen Wallenstein sagen lässt, dass es der Geist ist, der „sich den Körper baut“,8 so rührt er damit an die fundamentale Selbsterkenntnis, dass wir unser körperliches und geistiges Selbsterleben unserem Ich verdanken – dass es den physischen Leib mit Hilfe der ätherischen und astralischen Organisation gebildet hat.
Daraus ergibt sich nicht nur die Möglichkeit, dass wir uns als einheitliche Identität erleben, sondern auch die Begrifflichkeit für ein höheres und ein niederes Selbst:
-
Als ‚nieder‘ kann die unbewusst durch die Naturgesetze gesteuerte körperliche Identität angesehen werden,
-
als ‚höher‘ dagegen die bewusstseinsklare, freie, selbstgesteuerte seelisch-geistige Identität.
Neben dem an den Körper gebundenen Selbsterleben, das durch Naturvorgänge gesteuert wird, wird im Laufe der körperlichen Reifung ein zweites, höheres Selbst ‚geboren’, das in Form der leibunabhängig wirksamen Seelenkräfte der Selbstführung bedarf.
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 20259
- Rudolf Steiner, Ita Wegmann, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst…“, GA 27.
- Siehe auch: Ebenda, Kap. 3.
- Ebenda.
- Vgl. A. Husemann (2007).
- FN1, S. 12.
- vgl. Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293, Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches, GA 294, Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, GA 295 und Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, GA 302a.
- Siehe z. B. Breme (2008).
- Schiller (2010), S. 73.
- In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.