Anthroposophie als Geisteswissenschaft

Alles, was Rudolf Steiner zur Anthroposophie sagte und schrieb, liegt in Form einer Gesamtausgabe seiner vor.1 In grundlegenden Büchern und Schriften sowie rund 6000 Vorträgen vor Fachleuten und Laien hat Rudolf Steiner eine Fülle von meditativen Forschungen spirituellen Tatsachen, Inhalten und Weisheiten dargestellt und unter dem Begriff Anthroposophie der Welt zur Verfügung gestellt (vgl. Anthroposophie: Leitmotive der Anthroposophie).

Ergebnisse eigenständiger Forschung

Von außen betrachtet mag es so aussehen, als hätte Steiner bereits vorliegendes Wissen aus der theosophischen und christlich-mystischen Tradition bzw. anderer großer Geister der Kulturgeschichte lediglich verbunden und in größere Zusammenhänge gesetzt. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch die Authentizität und persönliche Handschrift von Steiners eigenen Forschungen.

Auf die Unterstellung, er habe sein Wissen lediglich zusammengesucht und nicht eigenständig erforscht, entgegnete er in einem Vortrag vor Medizinern: „Ich möchte nicht versäumen, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass dasjenige, was ich hier vortrage, nicht entlehnt ist älteren medizinischen Schriften, sondern auf durchaus gegenwärtiger geisteswissenschaftlicher Forschung beruht. Nur muss versucht werden, zuweilen in der Terminologie auf die ältere Literatur zurückzugreifen, weil ja die neuere Literatur eine Terminologie nach dieser Richtung hin noch nicht ausgebildet hat. Aber derjenige, der glauben würde, dass irgendetwas hier vorgetragen wird, was nur älteren Schriften entnommen ist, der würde sich eben sehr irren.“2

Die von ihm dargestellten Zusammenhänge über Mensch und Welt, Natur und Geist sind Ergebnisse seiner eigenen geisteswissenschaftlichen Forschung und werden von ihm anthroposophische Geisteswissenschaft genannt. Anfangs sprach er auch gemäß alter spiritueller Tradition von „Geheimwissenschaft“.3

Innere Evidenz anstelle von Glauben

Dass die Anthroposophie in die Nähe von Weltanschauung und Religion gerät, liegt an der Komplexität und Fülle geistiger Tatsachen, die Steiner vor seinen Zuhörern darlegte. Daher betont er wiederholt, dass es sich bei seinen Schilderungen und Sichtweisen um authentisches Wissen handle, das von ihm selbst erarbeitet wurde und das als Erkenntnis und nicht als Glaubensinhalte angesehen werden müsse (vgl. Anthroposophie: Anthroposophie und Religion). Er wollte das von ihm Dargestellte als anregende Idee bzw. als Arbeitshypothese verstanden wissen, die Menschen selbst überprüfen sollten, ob sie der eigenen Lebenserfahrung und Erkenntnissuche standhalten und ob sie dem eigenen Leben dienlich sein können.

Auch hoffte er, ja forderte dazu auf, dass akademisch geschulte Leser seiner Schriften die Anstrengung unternehmen würden, seine auf meditativen Wegen errungenen Einsichten mit Hilfe zeitgemäßer empirischer Forschungsmethoden nachzuweisen. Damit führte Steiner in den wissenschaftlichen Diskurs das Prinzip der internen bzw. inneren Evidenz ein: Was man, gestützt auf Erfahrung und Einsicht, als richtig erkannt hat, empfindet man als „innerlich evident“ (vgl. Anthroposophische Medizin: Entwicklung und derzeitiger Stand). Es bedarf dann aber auch noch der externen Evidenz, damit man anhand reproduzierbarer Fakten die Legitimität des als richtig Erkannten aufzeigen kann. Beide Evidenzen zusammen ergeben eine umfassende Erkenntnis von Mensch und Welt und die Möglichkeit, sich ein ganzheitliches Menschen- und Weltverständnis zu erarbeiten.

Vgl. Artikel in der Deutschen Apothekerzeitung DAZ Nr. 39, 2015

  1. https://www.steinerverlag.com/de/rudolf-steiner-gesamtausgabe/
  2. Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin, GA 312. Sechster Vortrag, Dornach, 26. März 1920. S. 118, Dornach 1999.
  3. Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13. Dornach 1989.